Auf neuen Bahnen
ERÖFFNUNGSVORTRAG BEIM INTERNATIONALEN BRAHMS-MUSIKFEST
MÜRZZUSCHLAG 12. 9. 2007
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zunächst möchte ich mich herzlichst für die Einladung hier zum internationalen Brahms-Musikfest
in Mürzzuschlag bedanken. Da meine musikalische Ausbildung nicht besonders intensiv war; ist
mein Beitrag zum Musikfest natürlich ausschließlich verbaler Natur.
150 Jahre durchgehende Eisenbahnverbindung zwischen Wien und Triest sollen zum Anlass
genommen werden, das kulturgeschichtliche Phänomen Eisenbahn näher zu untersuchen und vor
allem seine vielfältigen Auswirkungen auf das Leben der Menschen im 19. Jahrhundert. Es geht
dabei also n i c h t so sehr um die Geschichte der Südbahn, sondern es geht um jenen Zeitraum
von etwa sechs Jahrzehnten ab 1830, in denen die Menschen in Europa – und nicht zu vergessen
in Amerika – erst lernen mussten, mit diesem neuen - revolutionären – Verkehrsmittel zu leben.
Dieser Zeitraum umfasst übrigens, wie sie wissen, ziemlich genau auch die Lebenszeit von
Johannes Brahms. Brahms ist bereits mit der Bahn aufgewachsen. Aber für die Generation vor ihm,
die noch mit der Postkutsche auf Reisen war, hat die Eisenbahn wahrscheinlich einen g r ö ß e r e n
Modernisierungsschub gebracht als – vergleichsweise – meiner Generation das Internet. Und
zwar nicht nur im Bereich der Mobilität, sondern im Gefolge der Bahn auch in der Kommunikation, in
der Wirtschaft und Technik, im kulturellen Bereich und im Freizeitverhalten.
Es ist daher durchaus bezeichnend, dass der 23 Jahre ältere Robert Schumann, also noch ein Kind
des Postkutschenzeitalters, jenen Artikel, mit dem er die Öffentlichkeit auf den jungen Brahms
aufmerksam machen wollte, mit „Neue Bahnen“ übertitelte. Im Oktober 1853 hat dieser Titel
zweifellos für Jeden - damals eindeutig nachvollziehbar - die Eigenschaften neu, modern und
fortschrittlich umschrieben. Schumann schrieb in dem Artikel über den 20-jährigen Brahms, den er
erst kurz zuvor kennen gelernt hatte: Es müsse doch
„einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise
auszusprechen berufen wäre ... Und er ist gekommen ... Johannes Brahms kam von Hamburg ...
Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener...“.
(Zitat:„Neue Zeitschrift für Musik“, Leipzig, 25. / 28. 10.1853).
Was Schumann 1853 mit „Neue Bahnen“umschrieben hatte, brachte Arnold Schönberg im Jahr 1933
zum 100. Geburtstag von Johannes Brahms in einem Vortrag im Frankfurter Rundfunk sprachlich auf
den Punkt: er wählte den Titel „Brahms, der Fortschrittliche“. (Zit. 12..2.1933).
Zurück zur Geschichte der Bahn: mir geht es dabei nicht so sehr um die technische Entwicklung im
Eisenbahnwesen, sondern um die Fortschritte im Verkehrswesen und ihre unmittelbaren
Auswirkungen auf den einzelnen Menschen und sein wirtschaftliches sowie kulturelles Verhalten.
Dabei möchte ich versuchen, immer wieder auch Bezüge zur lokalen Umgebung und besonders zur
Südbahn herzustellen.
Wobei ich zuvor ganz bewusst von 150 Jahren Wien -Triest gesprochen habe und nicht von 150
Jahren Südbahn: denn die Konzessionsurkunde der k. k. privilegierten Südbahngesellschaft stammt
vom 23. September 1858 – es gibt also im kommenden Jahr nochmals ein 150-Jahre-Jubiläum
zu feiern.....
In der umfangreichen Literatur zum Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert finden sich Aussprüche wie:
„Die erste große Errungenschaft im Bereich des Transportwesens seit der Erfindung des
Rades“; „Die größte produktive Tat des 19. Jahrhunderts“ oder „Die größte Gabe
Englands an die abendländische Kultur“.
Worin liegt also kulturgeschichtlich gesehen diese revolutionäre Umwälzung durch die Eisenbahn?
Es war wohl vor allem das in der Geschichte erstmalige Überwinden einer Art „natürlichen
Geschwindigkeit“. Dass sich also der Mensch in einem Tempo fortbewegen konnte, das bis dahin
auf Basis natürlicher Ressourcen wie Wind, Wasser oder Pferdekraft nicht erreichbar war. Die
Wirkung der Eisenbahn wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts oft mit einer
„Vernichtung von Zeit und Raum“
beschrieben. Eine bestimmte räumliche Entfernung, für die man traditionell eine seit jeher nicht
wesentlich veränderte Reise- oder Transportzeit aufwenden musste, war nun in einem Bruchteil
dieser Zeit zu bewältigen. Damit verkleinerten sich natürlich auch die Räume und ihre
ursprüngliche Bedeutung ging verloren.
Dieser Ansicht von der Vernichtung des Raumes versuchten schon bald Pioniere wie Carl Ritter
von Ghega mit positiven Formulierungen entgegenzutreten. Er meinte:
"Durch die Eisenbahnen schwinden die Distanzen, die materiellen Interessen werden
gefördert, die Kultur gehoben und verbreitet“.
Interessant an dieser Zeit-Raum-Diskussion ist übrigens, dass die Frage der Geschwindigkeit
zunächst für die Entwicklung der Eisenbahn nicht wirklich relevant war. Sondern es ging in
erster Linie um die Frage, wie man das Transport-Volumen erhöhen und zugleich die Transport -
Kosten senken konnte.
Dazu einige Zahlen, die auch für uns heute Lebende - wie ich denke - ganz interessant sind:
ein Pferd kann bis zu 200 Kilo tragen, sechs Pferde können auf einer unbefestigten Straße
eineinhalb Tonnen befördern. Als dann in England - mit neuer Technik - befestigte Straßen
gebaut wurden, konnte die Last eines Pferdefuhrwerks auf bis zu vier Tonnen gesteigert werden.
Und zugleich auch die Geschwindigkeit von vorher 6-8 Meilen auf bis zu 10 Meilen pro Stunde
(Und das – was heute oft nicht bedacht wird – auch bei schlechtem Wetter !). Ein Detail am
Rande, durchaus mit Bezug zur heutigen Realität: Die meisten der neuen Straßen in England
wurden als Mautstraßen errichtet und von den einzelnen Gesellschaften auch laufend instand
gehalten. Um 1800 zählte man auf der Insel bereits rund 1.000 Mautstellen.
In Österreich wurde der Straßenbau lange Zeit stiefmütterlich behandelt, wenn man von der
Reichsstraße nach Triest absieht. Hier hatte ja Kaiser Karl VI. schon 1728 den Ausbau der
Semmeringstraße angeordnet. Nach einer Bauzeit von nur 48 Tagen brachte der„Hamburgische
Korrespondent“ einen bewundernden Bericht über
„den sonst ohne zahlreiche Ochsen Vorspann und bei üblem Wetter fast ohnmöglich zu
passieren gewesenden Berg Semmering gemachten neuen Weg, der in einer so kurtzen
Zeit ... dergestalt vollkommen zugerichtet worden, dass anitzo Leute mit zwei Pferden
bespannte Wägen bequehm darüber fahren können ... indem man fast nicht glauben
sollte, dass auf einer solchen Anhöhe eine Landstraße durch Menschen Hände gemacht
werden könnte“.
(Zit. 30. Juni 1728).
Die Ausbildung moderner Straßenbauingenieure begann in Österreich übrigens erst 1815 mit
der Gründung der Technischen Hochschule in Wien.
Die Haupttransportwege vor dem Beginn des Eisenbahnzeitalters waren aber Flüsse und Kanäle.
Mit den Kanalbauten in England und Frankreich, auch in Norddeutschland, hatte man gute
Erfahrungen gemacht: ein einziges Pferd konnte am Treidelweg entlang eines Kanals Lasten
von bis zu 20 Tonnen ziehen - also dreißig Mal so viel wie auf der Straße (!).
Hier findet sich wieder ein interessanter Bezug zur Geschichte der Südbahn: wer von Wien
kommt, überquert in der Gegend von Guntramsdorf noch die Reste des sogenannten Wiener
Neustädter Kanals. Mit seinem Bau war 1797 begonnen worden, ab 1804 war er zwischen Wien
und Wiener Neustadt voll in Betrieb. Der Kanal hätte als Vorläufer der Südbahn bis Triest weiter
gebaut werden sollen, die Berge allerdings im Osten über pannonisches Gebiet umgangen.
Dieser Kanalbau war eine durchaus erfolgversprechende Idee, wenn man bedenkt, dass damals
in Südfrankreich die Verbindung vom Atlantik zum Mittelmeer in Form des Canal du Midi bereits
seit 120 Jahren in Betrieb war.
Der Wiener Neustädter Kanal als Verbindung von Wien nach Triest erlitt ein typisch
österreichisches Schicksal. Man hatte mit seinem Bau einfach um gute 100 Jahre zu spät begonnen.
1841 wurde die Eisenbahn zwischen Wien und Wiener Neustadt eröffnet. Bis dahin war der Kanal
der Haupttransportweg für Lasten wie Holz, Kohle, Metallerzeugnisse und Baumaterial vor allem in
Richtung der Hauptstadt. Ein Pferd konnte einen Lastkahn in 1 ½ Tagen von Wiener Neustadt nach
Wien schleppen, benötigte aber wegen der vielen Schleusen die selbe Zeit auch für den Rückweg.
Aber immerhin: zweimal 20 Tonnen pro Woche und Pferd waren durchaus möglich.
Pächter des Wiener Neustädter Kanals war um diese Zeit Simon Georg Freiherr von Sina, also jener
Bankier, der zunächst die Wien - Raaber - Eisenbahn gegründet hatte, die dann 1842 in die Wien –
Gloggnitzer - Gesellschaft umgewandelt wurde und damit Vorgängerin der Südbahn war. Mit seinem
Bahnbau hatte Sina somit selbst das wirtschaftliche Ende seines Kanals bewirkt.
Trotz der beeindruckenden Transportleistungen an den Kanälen mussten die Pferde den Maschinen
weichen. Dazu wieder ein Blick nach England so um das Jahr 1815: auf den Schienenwegen in
den Bergwerken wurde auf kurzen Strecken schon mit Dampflokomotiven experimentiert. Kohle war
reichlich vorhanden und billig, Futtermittel – vor allem Importgetreide – waren knapp, hoch besteuert
und teuer.... Der Nationalökonom Adam Smith hatte einige Jahrzehnte zuvor ausgerechnet, dass der
Unterhalt eines Pferdes so viel kostete wie acht Arbeiter an Lebensmitteln verbrauchten. Bei einer
Million Pferden, die in England für Transportzwecke eingesetzt waren, konnte man also
Lebensmittel für acht Millionen Arbeiter ersparen, wenn man eine Möglichkeit fand, die Pferde durch
mechanische Antriebe zu ersetzen.
Hier findet man also den eigentlichen Schlüssel zur Entwicklung der Eisenbahn. Die höhere
Geschwindigkeit war dann erst eine spätere Folge.
Ein Fachmann für die Geschichte der Eisenbahnreise, Wolfgang Schivelbusch, weist übrigens auf
ein interessantes wirtschafts- und kulturhistorisches Phänomen hin: während in England 1830 die
Eisenbahn Manchester – Liverpool schon voll in Betrieb war – mit großem Frachtaufkommen,
zahlreichen Passagieren – viel mehr, als ursprünglich erwartet - und einer bereits dreimal höheren
Reisegeschwindigkeit als die Postkutsche – gab es in Frankreich zahlreiche Stimmen zu Gunsten
der Pferdeeisenbahn. Die Argumentation kommt einem heute irgendwie bekannt vor: Frankreich
hatte wesentlich weniger Kohle als England, dafür aber mehr Landwirtschaft und billigere Futtermittel.
In Frankreich warnte man, dass die von den Lokomotiven verbrauchte Kohle der Erde entnommen
werde und zwangsläufig irgendwann zu Ende gehen müsse. Dagegen sei das Pferd ein nie
versiegendes Transportmittel, weil es sich auf natürliche Weise immer wieder selbst reproduziere.
Die Forderung nach mehr Einsatz von erneuerbarer Energie ist also – wie man sieht - keineswegs
eine Erfindung unserer Zeit.....
Zurück zum Topos der „Vernichtung von Zeit und Raum“ durch die Eisenbahn: um 1840 war man mit
der Postkutsche von Wien nach Hamburg rund 14 Tage unterwegs und nach Triest – um bei unserem
Südbahnbeispiel zu bleiben - rund acht Tage. Mit durchschnittlich 60 Kilometern pro Tag - frierend
oder schwitzend, immer aber durchgerüttelt. Und mit hohen Kosten nicht nur für die Beförderung,
sondern auch für die Nächtigungen auf den Poststationen, für Zölle, Mautgebühren, Trinkgelder und
die sogenannten Platzgebühren, die übrigens vom jeweiligen Futterpreis abhingen.
Dass man zwei Jahrzehnte später von Wien nach Triest nur noch knapp 17 Stunden benötigte, würde
man in unserer heutigen Vorstellung wohl als Zeit – E r s p a r n i s von 7 Tagen bezeichnen. Die
damalige Vorstellung von Zeit – V e r n i c h t u n g lässt zumindest erahnen, welche Probleme vor
allem die gebildeten Menschen im 19. Jahrhundert mit der neuen – hohen - Reisegeschwindigkeit
hatten.
Im Kern wurde das überlieferte Raum-Zeit-Kontinuum als vernichtet erlebt. Eine gegebene Strecke
konnte in einem Achtel der bisher gewohnten Zeit zurückgelegt werden, damit war in der Vorstellung
des 19. Jahrhunderts auch eine entsprechende Schrumpfung des Raumes verbunden. Was die
Menschen erst begreifen und verarbeiten mussten, war, dass die Zeitdauer eines Weges von einem
Ort zum anderen keine objektive mathematische Größe ist, sondern von der jeweils zur Verfügung
stehenden Verkehrstechnik abhängig ist. Man kann von einem Wirklichkeitsverlust der
Wahrnehmung sprechen. Die Wahrnehmung war bis dahin von einer in den Landschaftsraum
eingebetteten Verkehrstechnik geprägt – mit Straße, Pferd und Kutsche – und diese Wahrnehmung
sah sich nun einer völlig neuen revolutionären Verkehrstechnik gegenüber.
Diese Irritation kommt in einem Text von Heinrich Heine deutlich zum Ausdruck. 1843 war die
Eisenbahnstrecke von Paris nach Orleans eröffnet worden. Heine spricht in diesem
Zusammenhang in seiner „Lutezia“ von einem
„unheimlichen Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste
geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind“.
Nach Schießpulver und Druckerkunst werde nun die Eisenbahn das Leben der Menschheit verändern.
Und Heine schreibt weiter:
„Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und unseren
Vorstellungen. Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden.
Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet .... in viereinhalb Stunden reist man jetzt nach
Orleans.....was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt
und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder
aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner
Tür brandet die Nordsee....“.
(Zit.: Heine, Lutezia, 2. Teil. LVII., Ed. Elster, Bd. 6 S. 360).
Die Nordseebrandung vor der Pariser Wohnung zeigt es deutlich: die Vernichtung von Zeit und Raum
betraf den Zwischenraum zwischen den Orten, der nun nicht mehr wie früher erlebt wurde. Etwa, wie
es in einem englischen Bericht heißt, durch die dampfenden und erschöpften Pferde in der Poststation,
durch die man erst so richtig das Gefühl für die zurückgelegte Strecke, also für die Reisezeit
bekommen habe. Die Orte rückten aufeinander zu.
Kurz nach der Eröffnung der Strecke Paris – Orleans wurde übrigens im Pariser Theatre du Palais
Royal bereits eine französische Komödie mit großem Erfolg aufgeführt, die Johann Nestroy als
Vorlage für seine Posse „Eisenbahnheiraten“ diente. Das Stück wurde am 3. Jänner 1844 im Theater
an der Wien uraufgeführt und ein Bühnenliebling dieser Zeit, Wenzel Scholz, spielte die Hauptrolle.
Im 3. Akt sang er das Couplet „Die Geschwindigkeit macht mi verruckt“ und landete damit – heute
würde man sagen – einen Hit.
Bezeichnend für das neue Tempo-Erlebnis war der Refrain: Eine Dame hatte auf der Fahrt nach
Brünn ein Taschentüchlein fallen gelassen. Und ehe er sich als Galan erweisen und es aufheben
konnte, hatte er zu singen:
Die Eisenbahn is schon in Brünn und i hab mi noch net buckt, die Geschwindigkeit macht mi
verruckt.
Die Eisenbahn wurde in dieser Zeit oft als Projektil beschrieben. Immerhin hatte ein Schnellzug
eine nur viermal geringere Geschwindigkeit als eine Kanonenkugel. Und die Reise im Zug wurde als
„Geschossenwerden durch die Landschaft erlebt, bei dem einen Hören und Sehen
vergeht“.
Vor allem das mit dem Sehen hat die Menschen damals bewegt: während zum Beispiel Goethe in
seinen Reiseberichten noch eine kontinuierliche Reihe von Eindrücken schildern konnte bis hin zu
Details, wie etwa die Beschaffenheit des Straßenpflasters oder das Aussehen einzelner Häuser und
Menschen, wurde dieses Sehen jetzt durch die Geschwindigkeit eingeschränkt. Der Passagier, vor
allem mit dem seitlichen Blick aus dem Zughinaus, konnte nur noch eine verflüchtigte Landschaft
erkennen. Die Geschwindigkeit brachte eine wesentlich höhere Anzahl von Eindrücken, die der
Wahrnehmungsapparat aufnehmen und verarbeiten musste. Und diese Reizzunahme während einer
Eisenbahnreise wurde von dem meisten Zeitgenossen als zusätzliche Belastung erlebt.
Victor Hugo beschreibt das so:
„Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote
oder weiße Streifen ... die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen
sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein Schatten, eine Figur, ein
Gespenst an der Tür auf und verschwindet wie der Blitz, das ist der Zugschaffner...“
(Zit. Brief v. 22.8.1837).
Das auf das traditionelle Reisen fixierte Bewusstsein kam in die Krise, viele schafften es auch in der
zweiten Jahrhunderthälfte nicht mehr, eine dem technischen Fortschritt entsprechende Sehweise zu
entwickeln. So schrieb etwa Gustave Flaubert 1864 in einem Brief an einen Freund:
„Ich langweile mich derart in der Eisenbahn, dass ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu
heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus
nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt“.
Flaubert verbrachte die Nächte vor einer Bahnreise nach Möglichkeit schlaflos, um dann im Zug
schlafen zu können, weil er mit dem Blick aus dem Abteilfenster hinaus nichts anfangen konnte.
Dass er damit kein Einzelfall war, begünstigte die Gründung einer neuen Institution, die sich dann
binnen weniger Jahre rasant ausweitete: der Bahnhofsbuchhandlung. 1848 gab es in London die
erste Konzession, ein Jahr später wurden schon mehr als 1000 Bände angeboten, meist
Werke mit nützlichen Hinweisen und unschuldiger Unterhaltung,
wie es in der zeitgenössischen Werbung hieß. In den ersten Jahren konnte man gegen geringe
Gebühr ein Buch für die Fahrt ausleihen und am Zielbahnhof wieder abgeben. 1852 entstand die
erste Bahnhofsbuchhandlung in Frankreich, zwei Jahre später gab es bereits 60 Filialen. Die
Eisenbahnlektüre blieb aber für viele Jahre eine ausgesprochen bürgerliche Beschäftigung. Zugleich
trug sie nicht unwesentlich zu einer Änderung der Sitten und Gebräuche bei, vor allem, was die
Kommunikation der Menschen miteinander betraf.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz einen Blick auf die technische Entwicklung des
Eisenbahnwesens werfen, zumindest auf jene Bereiche, die unmittelbare Auswirkungen auf den
einzelnen Reisenden hatten. Dabei kann man grob eine europäische und eine amerikanische
Eisenbahnentwicklung unterscheiden.
Das zeigt sich zunächst einmal bei der Streckenführung. In Europa sollte mit der Eisenbahn fast
immer die Verbindung zwischen zwei oder mehreren Städten hergestellt werden. In Amerika
wurde die Bahn aus den Städten hinaus in Entwicklungsgebiete gebaut. In Europa, vor allem in
England, waren Grundstücke knapp und teuer. Das heißt, es wurde der Bau der kürzesten –
geraden – Strecke angestrebt, auf Brücken, Dämmen und durch Tunnels. In Amerika dagegen
waren die Grundstückspreise kein Thema. Die Bahn konnte dem Gelände angepasst und zum
Beispiel um Berge herum gebaut werden.
In Amerika wurden wesentlich engere Kurvenradien verwendet als in Europa. Das hing nicht zuletzt
auch mit der unterschiedlichen Bauweise der Eisenbahnwaggons zusammen. In Europa waren die
Waggons eine Weiterentwicklung der Postkutsche. Ein Waggon der ersten Klasse hatte praktisch
zwei oder drei aneinandergereihte Postkuschkabinen. Alle Wagen waren sehr kurz. Das mussten
sie auch sein, weil sie starre Radachsen hatten und daher – bei einem längeren Radabstand – in
Kurven entgleist wären.
In Amerika waren die Eisenbahnwaggons dagegen eine Weiterentwicklung der damaligen
Hauptverkehrsmittel – nämlich der Flussdampfer. In den USA wurden von Anfang an Drehgestelle
verwendet, die Waggons konnten daher wesentlich länger sein und bestanden – wie beim
Dampfer – aus einem großen Raum.
Und hier zeigen sich auch kulturgeschichtlich interessante Unterschiede. In den USA gab es keine
Wagenklassen. Eine Art Erste Klasse entwickelte sich de facto erst Ende der 60-er Jahre mit der
Einführung der Pullmannwagen. Und in den normalen Großraumwagen wurde – wie auch auf dem
Schiff – vielfältig kommuniziert. Der Mittelgang und die Sitze rechts und links davon machten es
möglich, umherzugehen und sich zu unterhalten.
In Europa gab es bis zu vier Wagenklassen. Die erste und zweite hatte geschlossene Coupes mit
seitlichen Einstiegen. Allgemeine Kommunikation gab es praktisch nur in den billigen dritten und
vierten Klassen. Das Neue in den Coupes war nun, dass man vis a vis einen Mitreisenden hatte,
der nicht mehr wie in der Postkutschenzeit acht Tage oder noch länger ein Reisebegleiter war,
sondern möglicherweise nach einer Stunde durch einen neuen Mitreisenden ersetzt wurde. Das
Gespräch verstummte, die Reise wurde zunehmend als stumpfsinnig empfunden – der Kreis zur
Eisenbahnlektüre schließt sich. Auf einem Ärztekongress 1866 wurde zwar nicht ausgeschlossen,
dass die Reiselektüre schädliche Auswirkungen auf die Augen haben könnte, aber sie sei nicht
abzuschaffen, denn das Lesen werde
„die natürlichste Tätigkeit in der Eisenbahn bleiben, nachdem diese neue Beförderungsweise
das Verhältnis der Reisenden zueinander so tiefgreifend verändert hat“.
Es wär’ übrigens nicht Österreich, wenn sich hier zu Lande nicht ein heftiger Konkurrenzkampf
zwischen dem amerikanischen und dem englischen System entwickelt hätte: Die Nordbahn wurde
nach dem englischen Prinzip errichtet, sowohl was die möglichst gerade Streckenführung
betrifft, als auch die Lokomotiven und die postkutschenähnlichen Waggons. Die Südbahn
wechselte 1841 nach dem Ende des ersten Bauabschnitts von Wien nach Wiener Neustadt zum
amerikanischen System mit engeren Kurvenradien, Drehgestellen, längeren Waggons und
amerikanischen Lokomotiven. Mit dazu beigetragen haben zweifellos die Studienreisen von Carl
Ritter von Ghega. Er hatte zur Vorbereitung der Semmering – Planung nicht nur England, sondern
auch die USA besucht und von dort wichtige Impulse mitgebracht.
Der Zeitgewinn einer Eisenbahnreise, noch dazu in bequemen Waggons, wurde bald als positiver
Effekt akzeptiert. Aber das Nicht – Empfinden der zurückgelegten Strecke war für viele durchaus
noch längere Zeit ein Problem. In einem französischen Text heißt es etwa, dass man zwar
jetzt am Abend in Paris in den Zug steigen könnte und am nächsten Vormittag an der Riviera
ankomme. Aber auf der Fahrt selbst unterscheide sich der Passagier kaum von einem Brief oder
Paket: er gebe sich sozusagen am Abend selbst als Paket auf und lade sich am nächsten Tag an
der Riviera wieder aus.
Während das neue räumliche Sehen vor allem der älteren Generation noch Schwierigkeiten
bereitete, brachte es für die große Masse der Jüngeren neue Erlebnisse: Tausende gingen auf
Vergnügungsfahrt. Mit neuen Eindrücken – nicht nur von der Geschwindigkeit – sondern auch von
der Landschaft. Hier wurde die Fahrt an sich – durchaus mit neuen Sehgewohnheiten – zum
Ereignis. Der Fahrgast war nicht mehr ein Paket, das sich selbst verschickte, sondern der
Fahrkartenschalter wurde – wie es in einem zeitgenössischen Text heißt – zur Theaterkasse und
die Fahrt zu einem lustbetonten Schauspiel. Der Raum wurde nicht mehr vernichtet, sondern
völlig neu erlebt. Erster Höhepunkt dieser Entwicklung war die Semmeringfahrt. Abgesehen von
der technischen Meisterleistung, die es zu bestaunen galt, ermöglichte der Semmering ein Raum-
und Landschaftserlebnis, das für viele bis dahin nicht vorstellbar war. Bald gab es Anweisungen
für das „richtige“ Schauen (also zum Beispiel, bei der Bergfahrt beim linken Fenster
hinauszusehen).
Clara Schumann schrieb im April 1866 an Johannes Brahms von einer Konzertreise aus Graz:
„... die herrliche Tour über den Semmering war entzückend und labte das wehmütige Herz
so, dass ich ganz gestärkt hier ankam“.
In Wien entstand das erste Reisebüro und veranstaltete Aussichtsfahrten auf den Semmering.
Dazu ein interessanter Zahlenvergleich: zu den Weltcup-Schirennen im Dezember reisen in den
letzten Jahren regelmäßig etwa 20.000 Besucher an. Zu Pfingsten 1857 kamen allein aus Wien
55.000 Schaulustige mit der Eisenbahn auf den Semmering.
Natürlich gab es auch damals schon Extremfälle: Peter Rosegger berichtet uns, dass er in der
Mürzzuschlager Restauration
„zwei Söhnen Albions gegenüber saß, die während desselben Tages und der
vorhergehenden Nacht sechsmal über den Semmering gefahren waren“.
Sechsmal die selbe Strecke hin und her wurde – wenn auch pro Woche – im Großraum London
schon Mitte des 18. Jahrhunderts für Zehntausende zum Normalfall: die Eisenbahn machte es
möglich, das Wohnen im Grünen mit den täglichen Geschäften in der City problemlos zu verbinden.
Bei uns entstand zunächst eine Art Mischform: die Sommerfrische in Pressbaum bei Wien mag als
Beispiel dienen. Geschäftsleute und Industrielle konnten den Sommer mit ihrer Familie am Land
verbringen und waren dennoch in knapp vierzig Minuten in der Stadt. Ein Umstand, der von
Johannes Brahms bei seinem Sommeraufenthalt 1881 nahezu wöchentlich ausgenutzt wurde. Wie
er ja übrigens auch bei seinen Aufenthalten in Mürzzuschlag immer wieder einmal kurz nach Wien
fuhr.
Die Sommerfrische für das Bürgertum war im wesentlichen eine Folge des Eisenbahnbaues:
Reichenau, Mürzzuschlag, später nach der Fertigstellung der Kaiserin Elisabeth-Westbahn 1860
und vor allem der Salzkammergutbahn 1877 das Salzkammergut, ebenso die Kärntner Seen.
Am 6. Juli 1877 schrieb Clara Schumann an Brahms etwas erstaunt:
„Also in Pörtschach bist Du? Hätte man nur eine Idee, wo das ist...“
( Johannes FORNER, Brahms, ein Sommerkomponist 1997. S. 131).
Die steigende Mobilität der Bürger - anders gesagt der Fremdenverkehr - brachte noch einen
Aspekt mit sich, der zumindest vom Adel durchaus nicht geschätzt wurde: nämlich den Verlust
der Exklusivität. Mit dem Bahnbau zur englischen Südküste zog sich der Adel zunehmend auf
Besitzungen in Schottland oder Irland zurück, die Riviera wurde bürgerliches Allgemeingut. Neue
Destinationen entstanden. Eine Entwicklung, die auch in der heutigen Zeit mit dem
Massentourismus zu immer exotischeren Zielen noch keineswegs abgeschlossen ist.
Wie Teile der damals neuen Reisegesellschaft gesellschaftlich eingeschätzt wurden, zeigt sich
in den Verhaltensregeln für Eisenbahnbenützer von Max von Weber. Der Sohn von Carl Maria
von Weber empfahl 1854, also im Jahr der Semmeringeröffnung, unter anderem:
Während der Fahrt halte man keine Stöcke oder Schirme vor sich im Wagen, noch
weniger bringe man sie an den Mund oder stütze den Kopf darauf. In Folge rascher
Verminderung der Geschwindigkeit könnte sonst Einstoßen von Zähnen und Gaumen
herbeigeführt werden“.
Nach der Einführung von Speisewagen ab etwa 1880 hieß es dann in Richtung „Familie Neureich“
noch drastischer:
„Achtung Kurve, Messer aus dem Mund!“
Im Kunstbereich war in Bezug auf die Exklusivität die Rede vom Verlust der sogenannten “Aura“.
Die Einmaligkeit eines Kunstwerkes an einem ganz bestimmten Ort blieb zwar physisch
unangetastet (im Gegensatz etwa zu den Korallenriffen auf den Malediven), verlor aber durch
die leichtere und auch billigere Zugänglichkeit den Wert der Abgeschlossenheit. Im Bereich der
bildenden Kunst bedeutete dies zunächst in erster Linie eine Einbahnstraße der Betrachter in
Richtung Kunstwerk. In der Musik brachte die Eisenbahn eine Intensivierung in beiden
Richtungen: einerseits konnten mehr Menschen zu einem Konzert oder einer Opernaufführung
anreisen. Andererseits waren die Künstler unter den Ersten, die von der neuen Mobilität Nutzen
zogen und in Form von Gastspielreisen neue Zuhörerkreise erreichten.
Als Beispiel für diese Reisetätigkeit habe ich bei Johannes Brahms das erste Halbjahr 1884
herausgegriffen:
Im Jänner Konzerte in Wiesbaden und Berlin, im Februar in Meiningen, Leipzig, Köln,
Düsseldorf, Barmen und Amsterdam, im März Essen, Dresden und Frankfurt. Dann im
Mai die (vierte) Italienreise: Trient, Gardasee, Genua, Mailand und Comersee und
schließlich im Juni vor seinem Sommeraufenthalt in Mürzzuschlag noch ein Konzert in
Düsseldorf.
Ein Reiseprogramm, das 50 Jahre zuvor einfach von der dafür notwendigen Reisezeit her
nicht vorstellbar gewesen wäre. Eine weitere Neuerung in diesem Zusammenhang waren die
Gastspielreisen ganzer Orchester. Im November 1885 stellte Brahms seine hier in diesem Raum
komponierte 4. Symphonie auf einer Gastspielreise zusammen mit der Mannheimer Hofkapelle
innerhalb weniger Tage in zehn deutschen und niederländischen Städten vor.
Giuseppe Verdi war schon zehn Jahre vorher mit einem – wenn auch kleineren - Ensemble nach
Wien unterwegs. Bei seinem ersten Besuch 1843 hatte die Reisezeit von Mailand nach Wien noch
mindestens 10 Tage betragen. Danach hatte Verdi – vor allem aus politischen Gründen - die
Kaiserstadt 32 Jahre lang gemieden. 1875 kam er dann wieder für einige Tage. In diesem Jahr
waren Wien und Mailand bereits durch vier verschiedene Bahnstrecken miteinander verbunden.
Für vier Aufführungen seines Requiems schickte Verdi den Dirigenten Franco Faccio für die
Chorproben und auch für die Generalprobe voraus und brachte die vier Solisten mit, von denen
Teresa Stolz und Maria Waldmann schon die Uraufführung in Mailand gesungen hatten.
Ein lokaler Bezug lässt sich hier zwar nicht mit der Eisenbahn, aber mit Brahms herstellen, wenn
Eduard Hanslik zwar die Aufführung lobte, aber meinte, dass
„so kindisch wohl niemand sein werde, Verdis Manzoni – Messe mit dem Deutschen
Requiem von Brahms auf eine Höhe zu stellen“.
Noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen muss man bei Johann Strauss und seiner Beziehung
zur Eisenbahn: er war schon zwischen 1856 und 1865 neunmal in Pawlowsk auf Einladung der
dortigen Eisenbahngesellschaft. (Die kurze Bahnstrecke bei St. Petersburg wurde 1838 vom Wiener
Ingenieur Gerstner erbaut). In den ersten Jahren seiner sommerlichen Gastspiele fuhr Strauss mit
der Bahn nach Stettin und von dort weiter mit dem Schiff. Dass Johann Strauss im Sommer 1872
einen Vertrag mit der Zarskoe – Selo – Eisenbahngesellschaft über Konzerte in Pawlowsk nicht
einhielt, sondern einer lukrativeren Einladung nach Boston in die USA folgte, mag wohl „heut zu
Tage“ für eine von Künstlerabsagen geplagte Salzburger Festspielpräsidentin auch kein wirklicher
Trost sein.....
In Wien jedenfalls entstanden rund um das Thema Eisenbahn zahlreiche volkstümliche
Kompositionen. Josef Lanner machte schon 1835 den Anfang mit seinem Dampf-Walzer, die
Strauß-Dynastie widmete insgesamt 12 Stücke der Eisenbahn, die meist auf Bällen zur
Uraufführung gelangten. Eisenbahn-Lustwalzer – Vergnügungszug - Auf Ferienreise –
Reiselust – Von Land zu Land. Carl Michael Ziehrers Vergnügungszügler, durchwegs Titel, die
zeigen, dass das neue Verkehrsmittel Eisenbahn schon nach kurzer Zeit – in heutiger Diktion
würde man sagen - durchaus positiv besetzt war. Dazu kamen schon in den ersten Jahren allein
in Wien fünf Possen zum Thema Eisenbahn, durchwegs große Erfolge im Theater an der Wien und
in der Josefstadt. Darunter auch die bereits erwähnten Eisenbahnheiraten von Johann Nestroy.
Der bekannte Eisenbahn – Grantler und Gegner jeglicher rascher Ortsveränderung, Franz Grillparzer,
blieb da wohl in der Minderheit......
Gegen Ende würde ich gerne nochmals auf den Faktor Zeit zurückkommen, weil sich hier im Gefolge
der Eisenbahn noch eine wichtige Neuerung für das Zusammenleben und vor allem die
Kommunikation der Menschen ergeben hat: nach der vermeintlichen Vernichtung der Zeit, von der
wir zuvor gesprochen haben, wurde den Menschen nun durch die Eisenbahn tatsächlich ihre lokale
Zeit genommen. Im Postkutschenzeitalter war es ja kein Problem, dass etwa die Londoner Zeit
14 Minuten früher war als die Lokalzeit von Bridgewater. Die Bahn benötigte jedoch für ihre
überregionalen Fahrpläne einheitliche Zeitangaben. Doch diese Vereinheitlichung ließ noch 50 Jahre
auf sich warten.
Der Fahrplan des ersten Orient-Express-Zuges von Paris über Wien nach Varna am Schwarzen
Meer kennt im Oktober 1883 noch immer nicht weniger als sieben verschiedene Lokalzeiten wie
etwa die Stuttgarter Zeit, die Münchner, Prager, Pester und Bukarester Zeit. Erst seit 1884 war
einheitlich die Mitteleuropäische Zeit in Verwendung.
Zuvor hatten die einzelnen Bahnen ihre eigenen Zeiten, die sich meist nach dem Firmensitz der
Gesellschaft orientierten. Das hat etwa in den USA zu der skurrilen Situation geführt, dass sich
am Bahnhof von Buffalo, der von drei Bahngesellschaften mit unterschiedlichen Firmensitzen
angefahren wurde, bis 1883 drei verschiedene Uhren mit jeweils unterschiedlichen Zeiten
befunden haben.
Und noch etwas hat sich im Zuge des Bahnbaus entwickelt, was mir als ehemaligem
Fernsehjournalisten ziemlich wichtig erscheint: das war die Nachrichtenübermittlung nahezu in
Echtzeit durch den Bau von Telegraphenleitungen. Denn Wien und Triest waren sich vor 150
Jahren reisemäßig zwar bis auf 17 Stunden nahe gekommen, nachrichtenmäßig aber gab es
durch die Telegraphie nochmals einen Quantensprung: eine Neuigkeit benötigte für ihre
Übermittlung nicht mehr Tage oder Stunden, sondern nur noch wenige Minuten.
Wobei Max von Weber, der ja ein anerkannter Eisenbahnfachmann war, im Zusammenhang mit
dem Telegraphen auf einen Umstand aufmerksam machte, der allen Buben im 19. und 20.
Jahrhundert, die irgend wann einmal Lokomotivführer werden wollten, wohl nicht so bewusst war:
der Lokführer wurde durch den vorgegebenen Schienenstrang, noch mehr jedoch durch die
sicherheitsmäßige und fahrplanmäßige Weiterleitung des Zuges von einer Telegraphenstation
zur anderen in den Augen von Max von Weber zu einem nahezu mechanischen Teil des
Transportmittels degradiert – mit den Aufgaben Beschleunigen und Bremsen - und hatte damit
wesentlich weniger Kompetenz als etwa der Kutscher einer Postkutsche oder gar ein
Schiffskapitän.
Nun ja, das hat an den Bubenträumen wohl trotzdem nichts geändert....
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer Fragestellung enden, die durchaus als
Einstimmung auf die nächsten Tage im Rahmen des Brahmsfestes gedacht ist. Eine Fragestellung,
die dem Historiker untersagt ist, dem Journalisten aber meist viel Vergnügen bereitet: nämlich die
Frage „was wäre gewesen, wenn.....“?
Neben Johannes Brahms war ja auch Richard Strauß ein sogenannter Sommer-Komponist, mit
langen Perioden schöpferischer Arbeit in der Sommerfrische. Ihn betrifft meine abschließende
„Was wäre gewesen, wenn“ – Frage. 1905 wurde die Eisenbahnverbindung nach Bad Gastein
eröffnet, Strauß war dann in der Folge mehrmals in Gastein und komponierte im Sommer 1913 –
wenn auch in der Brenta - die Klavierskizze seiner Alpensymphonie. Was wäre nun gewesen,
wenn die Bahn nicht nach Gastein gebaut worden wäre, wenn Richard Strauß daher nicht dorthin
gefahren wäre und damit auch eine andere Einstimmung auf die Bergwelt erfahren hätte. Hätte
die Alpensymphonie dann anders ausgesehen? Wäre das „Wasserfall-Motiv“ im Thema
„Aufstieg auf den Berg“ vorhanden oder nicht – oder ganz anders?
Wie gesagt, unzulässige Spekulationen. Aber trotzdem interessant, darüber nachzudenken,
wie weit die Eisenbahn die Entwicklung der Kunst mitbeeinflusst hat – nicht nur im
Allgemeinen, sondern vermutlich auch im Detail.
MÜRZZUSCHLAG 12. 9. 2007
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zunächst möchte ich mich herzlichst für die Einladung hier zum internationalen Brahms-Musikfest
in Mürzzuschlag bedanken. Da meine musikalische Ausbildung nicht besonders intensiv war; ist
mein Beitrag zum Musikfest natürlich ausschließlich verbaler Natur.
150 Jahre durchgehende Eisenbahnverbindung zwischen Wien und Triest sollen zum Anlass
genommen werden, das kulturgeschichtliche Phänomen Eisenbahn näher zu untersuchen und vor
allem seine vielfältigen Auswirkungen auf das Leben der Menschen im 19. Jahrhundert. Es geht
dabei also n i c h t so sehr um die Geschichte der Südbahn, sondern es geht um jenen Zeitraum
von etwa sechs Jahrzehnten ab 1830, in denen die Menschen in Europa – und nicht zu vergessen
in Amerika – erst lernen mussten, mit diesem neuen - revolutionären – Verkehrsmittel zu leben.
Dieser Zeitraum umfasst übrigens, wie sie wissen, ziemlich genau auch die Lebenszeit von
Johannes Brahms. Brahms ist bereits mit der Bahn aufgewachsen. Aber für die Generation vor ihm,
die noch mit der Postkutsche auf Reisen war, hat die Eisenbahn wahrscheinlich einen g r ö ß e r e n
Modernisierungsschub gebracht als – vergleichsweise – meiner Generation das Internet. Und
zwar nicht nur im Bereich der Mobilität, sondern im Gefolge der Bahn auch in der Kommunikation, in
der Wirtschaft und Technik, im kulturellen Bereich und im Freizeitverhalten.
Es ist daher durchaus bezeichnend, dass der 23 Jahre ältere Robert Schumann, also noch ein Kind
des Postkutschenzeitalters, jenen Artikel, mit dem er die Öffentlichkeit auf den jungen Brahms
aufmerksam machen wollte, mit „Neue Bahnen“ übertitelte. Im Oktober 1853 hat dieser Titel
zweifellos für Jeden - damals eindeutig nachvollziehbar - die Eigenschaften neu, modern und
fortschrittlich umschrieben. Schumann schrieb in dem Artikel über den 20-jährigen Brahms, den er
erst kurz zuvor kennen gelernt hatte: Es müsse doch
„einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise
auszusprechen berufen wäre ... Und er ist gekommen ... Johannes Brahms kam von Hamburg ...
Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener...“.
(Zitat:„Neue Zeitschrift für Musik“, Leipzig, 25. / 28. 10.1853).
Was Schumann 1853 mit „Neue Bahnen“umschrieben hatte, brachte Arnold Schönberg im Jahr 1933
zum 100. Geburtstag von Johannes Brahms in einem Vortrag im Frankfurter Rundfunk sprachlich auf
den Punkt: er wählte den Titel „Brahms, der Fortschrittliche“. (Zit. 12..2.1933).
Zurück zur Geschichte der Bahn: mir geht es dabei nicht so sehr um die technische Entwicklung im
Eisenbahnwesen, sondern um die Fortschritte im Verkehrswesen und ihre unmittelbaren
Auswirkungen auf den einzelnen Menschen und sein wirtschaftliches sowie kulturelles Verhalten.
Dabei möchte ich versuchen, immer wieder auch Bezüge zur lokalen Umgebung und besonders zur
Südbahn herzustellen.
Wobei ich zuvor ganz bewusst von 150 Jahren Wien -Triest gesprochen habe und nicht von 150
Jahren Südbahn: denn die Konzessionsurkunde der k. k. privilegierten Südbahngesellschaft stammt
vom 23. September 1858 – es gibt also im kommenden Jahr nochmals ein 150-Jahre-Jubiläum
zu feiern.....
In der umfangreichen Literatur zum Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert finden sich Aussprüche wie:
„Die erste große Errungenschaft im Bereich des Transportwesens seit der Erfindung des
Rades“; „Die größte produktive Tat des 19. Jahrhunderts“ oder „Die größte Gabe
Englands an die abendländische Kultur“.
Worin liegt also kulturgeschichtlich gesehen diese revolutionäre Umwälzung durch die Eisenbahn?
Es war wohl vor allem das in der Geschichte erstmalige Überwinden einer Art „natürlichen
Geschwindigkeit“. Dass sich also der Mensch in einem Tempo fortbewegen konnte, das bis dahin
auf Basis natürlicher Ressourcen wie Wind, Wasser oder Pferdekraft nicht erreichbar war. Die
Wirkung der Eisenbahn wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts oft mit einer
„Vernichtung von Zeit und Raum“
beschrieben. Eine bestimmte räumliche Entfernung, für die man traditionell eine seit jeher nicht
wesentlich veränderte Reise- oder Transportzeit aufwenden musste, war nun in einem Bruchteil
dieser Zeit zu bewältigen. Damit verkleinerten sich natürlich auch die Räume und ihre
ursprüngliche Bedeutung ging verloren.
Dieser Ansicht von der Vernichtung des Raumes versuchten schon bald Pioniere wie Carl Ritter
von Ghega mit positiven Formulierungen entgegenzutreten. Er meinte:
"Durch die Eisenbahnen schwinden die Distanzen, die materiellen Interessen werden
gefördert, die Kultur gehoben und verbreitet“.
Interessant an dieser Zeit-Raum-Diskussion ist übrigens, dass die Frage der Geschwindigkeit
zunächst für die Entwicklung der Eisenbahn nicht wirklich relevant war. Sondern es ging in
erster Linie um die Frage, wie man das Transport-Volumen erhöhen und zugleich die Transport -
Kosten senken konnte.
Dazu einige Zahlen, die auch für uns heute Lebende - wie ich denke - ganz interessant sind:
ein Pferd kann bis zu 200 Kilo tragen, sechs Pferde können auf einer unbefestigten Straße
eineinhalb Tonnen befördern. Als dann in England - mit neuer Technik - befestigte Straßen
gebaut wurden, konnte die Last eines Pferdefuhrwerks auf bis zu vier Tonnen gesteigert werden.
Und zugleich auch die Geschwindigkeit von vorher 6-8 Meilen auf bis zu 10 Meilen pro Stunde
(Und das – was heute oft nicht bedacht wird – auch bei schlechtem Wetter !). Ein Detail am
Rande, durchaus mit Bezug zur heutigen Realität: Die meisten der neuen Straßen in England
wurden als Mautstraßen errichtet und von den einzelnen Gesellschaften auch laufend instand
gehalten. Um 1800 zählte man auf der Insel bereits rund 1.000 Mautstellen.
In Österreich wurde der Straßenbau lange Zeit stiefmütterlich behandelt, wenn man von der
Reichsstraße nach Triest absieht. Hier hatte ja Kaiser Karl VI. schon 1728 den Ausbau der
Semmeringstraße angeordnet. Nach einer Bauzeit von nur 48 Tagen brachte der„Hamburgische
Korrespondent“ einen bewundernden Bericht über
„den sonst ohne zahlreiche Ochsen Vorspann und bei üblem Wetter fast ohnmöglich zu
passieren gewesenden Berg Semmering gemachten neuen Weg, der in einer so kurtzen
Zeit ... dergestalt vollkommen zugerichtet worden, dass anitzo Leute mit zwei Pferden
bespannte Wägen bequehm darüber fahren können ... indem man fast nicht glauben
sollte, dass auf einer solchen Anhöhe eine Landstraße durch Menschen Hände gemacht
werden könnte“.
(Zit. 30. Juni 1728).
Die Ausbildung moderner Straßenbauingenieure begann in Österreich übrigens erst 1815 mit
der Gründung der Technischen Hochschule in Wien.
Die Haupttransportwege vor dem Beginn des Eisenbahnzeitalters waren aber Flüsse und Kanäle.
Mit den Kanalbauten in England und Frankreich, auch in Norddeutschland, hatte man gute
Erfahrungen gemacht: ein einziges Pferd konnte am Treidelweg entlang eines Kanals Lasten
von bis zu 20 Tonnen ziehen - also dreißig Mal so viel wie auf der Straße (!).
Hier findet sich wieder ein interessanter Bezug zur Geschichte der Südbahn: wer von Wien
kommt, überquert in der Gegend von Guntramsdorf noch die Reste des sogenannten Wiener
Neustädter Kanals. Mit seinem Bau war 1797 begonnen worden, ab 1804 war er zwischen Wien
und Wiener Neustadt voll in Betrieb. Der Kanal hätte als Vorläufer der Südbahn bis Triest weiter
gebaut werden sollen, die Berge allerdings im Osten über pannonisches Gebiet umgangen.
Dieser Kanalbau war eine durchaus erfolgversprechende Idee, wenn man bedenkt, dass damals
in Südfrankreich die Verbindung vom Atlantik zum Mittelmeer in Form des Canal du Midi bereits
seit 120 Jahren in Betrieb war.
Der Wiener Neustädter Kanal als Verbindung von Wien nach Triest erlitt ein typisch
österreichisches Schicksal. Man hatte mit seinem Bau einfach um gute 100 Jahre zu spät begonnen.
1841 wurde die Eisenbahn zwischen Wien und Wiener Neustadt eröffnet. Bis dahin war der Kanal
der Haupttransportweg für Lasten wie Holz, Kohle, Metallerzeugnisse und Baumaterial vor allem in
Richtung der Hauptstadt. Ein Pferd konnte einen Lastkahn in 1 ½ Tagen von Wiener Neustadt nach
Wien schleppen, benötigte aber wegen der vielen Schleusen die selbe Zeit auch für den Rückweg.
Aber immerhin: zweimal 20 Tonnen pro Woche und Pferd waren durchaus möglich.
Pächter des Wiener Neustädter Kanals war um diese Zeit Simon Georg Freiherr von Sina, also jener
Bankier, der zunächst die Wien - Raaber - Eisenbahn gegründet hatte, die dann 1842 in die Wien –
Gloggnitzer - Gesellschaft umgewandelt wurde und damit Vorgängerin der Südbahn war. Mit seinem
Bahnbau hatte Sina somit selbst das wirtschaftliche Ende seines Kanals bewirkt.
Trotz der beeindruckenden Transportleistungen an den Kanälen mussten die Pferde den Maschinen
weichen. Dazu wieder ein Blick nach England so um das Jahr 1815: auf den Schienenwegen in
den Bergwerken wurde auf kurzen Strecken schon mit Dampflokomotiven experimentiert. Kohle war
reichlich vorhanden und billig, Futtermittel – vor allem Importgetreide – waren knapp, hoch besteuert
und teuer.... Der Nationalökonom Adam Smith hatte einige Jahrzehnte zuvor ausgerechnet, dass der
Unterhalt eines Pferdes so viel kostete wie acht Arbeiter an Lebensmitteln verbrauchten. Bei einer
Million Pferden, die in England für Transportzwecke eingesetzt waren, konnte man also
Lebensmittel für acht Millionen Arbeiter ersparen, wenn man eine Möglichkeit fand, die Pferde durch
mechanische Antriebe zu ersetzen.
Hier findet man also den eigentlichen Schlüssel zur Entwicklung der Eisenbahn. Die höhere
Geschwindigkeit war dann erst eine spätere Folge.
Ein Fachmann für die Geschichte der Eisenbahnreise, Wolfgang Schivelbusch, weist übrigens auf
ein interessantes wirtschafts- und kulturhistorisches Phänomen hin: während in England 1830 die
Eisenbahn Manchester – Liverpool schon voll in Betrieb war – mit großem Frachtaufkommen,
zahlreichen Passagieren – viel mehr, als ursprünglich erwartet - und einer bereits dreimal höheren
Reisegeschwindigkeit als die Postkutsche – gab es in Frankreich zahlreiche Stimmen zu Gunsten
der Pferdeeisenbahn. Die Argumentation kommt einem heute irgendwie bekannt vor: Frankreich
hatte wesentlich weniger Kohle als England, dafür aber mehr Landwirtschaft und billigere Futtermittel.
In Frankreich warnte man, dass die von den Lokomotiven verbrauchte Kohle der Erde entnommen
werde und zwangsläufig irgendwann zu Ende gehen müsse. Dagegen sei das Pferd ein nie
versiegendes Transportmittel, weil es sich auf natürliche Weise immer wieder selbst reproduziere.
Die Forderung nach mehr Einsatz von erneuerbarer Energie ist also – wie man sieht - keineswegs
eine Erfindung unserer Zeit.....
Zurück zum Topos der „Vernichtung von Zeit und Raum“ durch die Eisenbahn: um 1840 war man mit
der Postkutsche von Wien nach Hamburg rund 14 Tage unterwegs und nach Triest – um bei unserem
Südbahnbeispiel zu bleiben - rund acht Tage. Mit durchschnittlich 60 Kilometern pro Tag - frierend
oder schwitzend, immer aber durchgerüttelt. Und mit hohen Kosten nicht nur für die Beförderung,
sondern auch für die Nächtigungen auf den Poststationen, für Zölle, Mautgebühren, Trinkgelder und
die sogenannten Platzgebühren, die übrigens vom jeweiligen Futterpreis abhingen.
Dass man zwei Jahrzehnte später von Wien nach Triest nur noch knapp 17 Stunden benötigte, würde
man in unserer heutigen Vorstellung wohl als Zeit – E r s p a r n i s von 7 Tagen bezeichnen. Die
damalige Vorstellung von Zeit – V e r n i c h t u n g lässt zumindest erahnen, welche Probleme vor
allem die gebildeten Menschen im 19. Jahrhundert mit der neuen – hohen - Reisegeschwindigkeit
hatten.
Im Kern wurde das überlieferte Raum-Zeit-Kontinuum als vernichtet erlebt. Eine gegebene Strecke
konnte in einem Achtel der bisher gewohnten Zeit zurückgelegt werden, damit war in der Vorstellung
des 19. Jahrhunderts auch eine entsprechende Schrumpfung des Raumes verbunden. Was die
Menschen erst begreifen und verarbeiten mussten, war, dass die Zeitdauer eines Weges von einem
Ort zum anderen keine objektive mathematische Größe ist, sondern von der jeweils zur Verfügung
stehenden Verkehrstechnik abhängig ist. Man kann von einem Wirklichkeitsverlust der
Wahrnehmung sprechen. Die Wahrnehmung war bis dahin von einer in den Landschaftsraum
eingebetteten Verkehrstechnik geprägt – mit Straße, Pferd und Kutsche – und diese Wahrnehmung
sah sich nun einer völlig neuen revolutionären Verkehrstechnik gegenüber.
Diese Irritation kommt in einem Text von Heinrich Heine deutlich zum Ausdruck. 1843 war die
Eisenbahnstrecke von Paris nach Orleans eröffnet worden. Heine spricht in diesem
Zusammenhang in seiner „Lutezia“ von einem
„unheimlichen Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste
geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind“.
Nach Schießpulver und Druckerkunst werde nun die Eisenbahn das Leben der Menschheit verändern.
Und Heine schreibt weiter:
„Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und unseren
Vorstellungen. Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden.
Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet .... in viereinhalb Stunden reist man jetzt nach
Orleans.....was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt
und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder
aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner
Tür brandet die Nordsee....“.
(Zit.: Heine, Lutezia, 2. Teil. LVII., Ed. Elster, Bd. 6 S. 360).
Die Nordseebrandung vor der Pariser Wohnung zeigt es deutlich: die Vernichtung von Zeit und Raum
betraf den Zwischenraum zwischen den Orten, der nun nicht mehr wie früher erlebt wurde. Etwa, wie
es in einem englischen Bericht heißt, durch die dampfenden und erschöpften Pferde in der Poststation,
durch die man erst so richtig das Gefühl für die zurückgelegte Strecke, also für die Reisezeit
bekommen habe. Die Orte rückten aufeinander zu.
Kurz nach der Eröffnung der Strecke Paris – Orleans wurde übrigens im Pariser Theatre du Palais
Royal bereits eine französische Komödie mit großem Erfolg aufgeführt, die Johann Nestroy als
Vorlage für seine Posse „Eisenbahnheiraten“ diente. Das Stück wurde am 3. Jänner 1844 im Theater
an der Wien uraufgeführt und ein Bühnenliebling dieser Zeit, Wenzel Scholz, spielte die Hauptrolle.
Im 3. Akt sang er das Couplet „Die Geschwindigkeit macht mi verruckt“ und landete damit – heute
würde man sagen – einen Hit.
Bezeichnend für das neue Tempo-Erlebnis war der Refrain: Eine Dame hatte auf der Fahrt nach
Brünn ein Taschentüchlein fallen gelassen. Und ehe er sich als Galan erweisen und es aufheben
konnte, hatte er zu singen:
Die Eisenbahn is schon in Brünn und i hab mi noch net buckt, die Geschwindigkeit macht mi
verruckt.
Die Eisenbahn wurde in dieser Zeit oft als Projektil beschrieben. Immerhin hatte ein Schnellzug
eine nur viermal geringere Geschwindigkeit als eine Kanonenkugel. Und die Reise im Zug wurde als
„Geschossenwerden durch die Landschaft erlebt, bei dem einen Hören und Sehen
vergeht“.
Vor allem das mit dem Sehen hat die Menschen damals bewegt: während zum Beispiel Goethe in
seinen Reiseberichten noch eine kontinuierliche Reihe von Eindrücken schildern konnte bis hin zu
Details, wie etwa die Beschaffenheit des Straßenpflasters oder das Aussehen einzelner Häuser und
Menschen, wurde dieses Sehen jetzt durch die Geschwindigkeit eingeschränkt. Der Passagier, vor
allem mit dem seitlichen Blick aus dem Zughinaus, konnte nur noch eine verflüchtigte Landschaft
erkennen. Die Geschwindigkeit brachte eine wesentlich höhere Anzahl von Eindrücken, die der
Wahrnehmungsapparat aufnehmen und verarbeiten musste. Und diese Reizzunahme während einer
Eisenbahnreise wurde von dem meisten Zeitgenossen als zusätzliche Belastung erlebt.
Victor Hugo beschreibt das so:
„Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote
oder weiße Streifen ... die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen
sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein Schatten, eine Figur, ein
Gespenst an der Tür auf und verschwindet wie der Blitz, das ist der Zugschaffner...“
(Zit. Brief v. 22.8.1837).
Das auf das traditionelle Reisen fixierte Bewusstsein kam in die Krise, viele schafften es auch in der
zweiten Jahrhunderthälfte nicht mehr, eine dem technischen Fortschritt entsprechende Sehweise zu
entwickeln. So schrieb etwa Gustave Flaubert 1864 in einem Brief an einen Freund:
„Ich langweile mich derart in der Eisenbahn, dass ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu
heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus
nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt“.
Flaubert verbrachte die Nächte vor einer Bahnreise nach Möglichkeit schlaflos, um dann im Zug
schlafen zu können, weil er mit dem Blick aus dem Abteilfenster hinaus nichts anfangen konnte.
Dass er damit kein Einzelfall war, begünstigte die Gründung einer neuen Institution, die sich dann
binnen weniger Jahre rasant ausweitete: der Bahnhofsbuchhandlung. 1848 gab es in London die
erste Konzession, ein Jahr später wurden schon mehr als 1000 Bände angeboten, meist
Werke mit nützlichen Hinweisen und unschuldiger Unterhaltung,
wie es in der zeitgenössischen Werbung hieß. In den ersten Jahren konnte man gegen geringe
Gebühr ein Buch für die Fahrt ausleihen und am Zielbahnhof wieder abgeben. 1852 entstand die
erste Bahnhofsbuchhandlung in Frankreich, zwei Jahre später gab es bereits 60 Filialen. Die
Eisenbahnlektüre blieb aber für viele Jahre eine ausgesprochen bürgerliche Beschäftigung. Zugleich
trug sie nicht unwesentlich zu einer Änderung der Sitten und Gebräuche bei, vor allem, was die
Kommunikation der Menschen miteinander betraf.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz einen Blick auf die technische Entwicklung des
Eisenbahnwesens werfen, zumindest auf jene Bereiche, die unmittelbare Auswirkungen auf den
einzelnen Reisenden hatten. Dabei kann man grob eine europäische und eine amerikanische
Eisenbahnentwicklung unterscheiden.
Das zeigt sich zunächst einmal bei der Streckenführung. In Europa sollte mit der Eisenbahn fast
immer die Verbindung zwischen zwei oder mehreren Städten hergestellt werden. In Amerika
wurde die Bahn aus den Städten hinaus in Entwicklungsgebiete gebaut. In Europa, vor allem in
England, waren Grundstücke knapp und teuer. Das heißt, es wurde der Bau der kürzesten –
geraden – Strecke angestrebt, auf Brücken, Dämmen und durch Tunnels. In Amerika dagegen
waren die Grundstückspreise kein Thema. Die Bahn konnte dem Gelände angepasst und zum
Beispiel um Berge herum gebaut werden.
In Amerika wurden wesentlich engere Kurvenradien verwendet als in Europa. Das hing nicht zuletzt
auch mit der unterschiedlichen Bauweise der Eisenbahnwaggons zusammen. In Europa waren die
Waggons eine Weiterentwicklung der Postkutsche. Ein Waggon der ersten Klasse hatte praktisch
zwei oder drei aneinandergereihte Postkuschkabinen. Alle Wagen waren sehr kurz. Das mussten
sie auch sein, weil sie starre Radachsen hatten und daher – bei einem längeren Radabstand – in
Kurven entgleist wären.
In Amerika waren die Eisenbahnwaggons dagegen eine Weiterentwicklung der damaligen
Hauptverkehrsmittel – nämlich der Flussdampfer. In den USA wurden von Anfang an Drehgestelle
verwendet, die Waggons konnten daher wesentlich länger sein und bestanden – wie beim
Dampfer – aus einem großen Raum.
Und hier zeigen sich auch kulturgeschichtlich interessante Unterschiede. In den USA gab es keine
Wagenklassen. Eine Art Erste Klasse entwickelte sich de facto erst Ende der 60-er Jahre mit der
Einführung der Pullmannwagen. Und in den normalen Großraumwagen wurde – wie auch auf dem
Schiff – vielfältig kommuniziert. Der Mittelgang und die Sitze rechts und links davon machten es
möglich, umherzugehen und sich zu unterhalten.
In Europa gab es bis zu vier Wagenklassen. Die erste und zweite hatte geschlossene Coupes mit
seitlichen Einstiegen. Allgemeine Kommunikation gab es praktisch nur in den billigen dritten und
vierten Klassen. Das Neue in den Coupes war nun, dass man vis a vis einen Mitreisenden hatte,
der nicht mehr wie in der Postkutschenzeit acht Tage oder noch länger ein Reisebegleiter war,
sondern möglicherweise nach einer Stunde durch einen neuen Mitreisenden ersetzt wurde. Das
Gespräch verstummte, die Reise wurde zunehmend als stumpfsinnig empfunden – der Kreis zur
Eisenbahnlektüre schließt sich. Auf einem Ärztekongress 1866 wurde zwar nicht ausgeschlossen,
dass die Reiselektüre schädliche Auswirkungen auf die Augen haben könnte, aber sie sei nicht
abzuschaffen, denn das Lesen werde
„die natürlichste Tätigkeit in der Eisenbahn bleiben, nachdem diese neue Beförderungsweise
das Verhältnis der Reisenden zueinander so tiefgreifend verändert hat“.
Es wär’ übrigens nicht Österreich, wenn sich hier zu Lande nicht ein heftiger Konkurrenzkampf
zwischen dem amerikanischen und dem englischen System entwickelt hätte: Die Nordbahn wurde
nach dem englischen Prinzip errichtet, sowohl was die möglichst gerade Streckenführung
betrifft, als auch die Lokomotiven und die postkutschenähnlichen Waggons. Die Südbahn
wechselte 1841 nach dem Ende des ersten Bauabschnitts von Wien nach Wiener Neustadt zum
amerikanischen System mit engeren Kurvenradien, Drehgestellen, längeren Waggons und
amerikanischen Lokomotiven. Mit dazu beigetragen haben zweifellos die Studienreisen von Carl
Ritter von Ghega. Er hatte zur Vorbereitung der Semmering – Planung nicht nur England, sondern
auch die USA besucht und von dort wichtige Impulse mitgebracht.
Der Zeitgewinn einer Eisenbahnreise, noch dazu in bequemen Waggons, wurde bald als positiver
Effekt akzeptiert. Aber das Nicht – Empfinden der zurückgelegten Strecke war für viele durchaus
noch längere Zeit ein Problem. In einem französischen Text heißt es etwa, dass man zwar
jetzt am Abend in Paris in den Zug steigen könnte und am nächsten Vormittag an der Riviera
ankomme. Aber auf der Fahrt selbst unterscheide sich der Passagier kaum von einem Brief oder
Paket: er gebe sich sozusagen am Abend selbst als Paket auf und lade sich am nächsten Tag an
der Riviera wieder aus.
Während das neue räumliche Sehen vor allem der älteren Generation noch Schwierigkeiten
bereitete, brachte es für die große Masse der Jüngeren neue Erlebnisse: Tausende gingen auf
Vergnügungsfahrt. Mit neuen Eindrücken – nicht nur von der Geschwindigkeit – sondern auch von
der Landschaft. Hier wurde die Fahrt an sich – durchaus mit neuen Sehgewohnheiten – zum
Ereignis. Der Fahrgast war nicht mehr ein Paket, das sich selbst verschickte, sondern der
Fahrkartenschalter wurde – wie es in einem zeitgenössischen Text heißt – zur Theaterkasse und
die Fahrt zu einem lustbetonten Schauspiel. Der Raum wurde nicht mehr vernichtet, sondern
völlig neu erlebt. Erster Höhepunkt dieser Entwicklung war die Semmeringfahrt. Abgesehen von
der technischen Meisterleistung, die es zu bestaunen galt, ermöglichte der Semmering ein Raum-
und Landschaftserlebnis, das für viele bis dahin nicht vorstellbar war. Bald gab es Anweisungen
für das „richtige“ Schauen (also zum Beispiel, bei der Bergfahrt beim linken Fenster
hinauszusehen).
Clara Schumann schrieb im April 1866 an Johannes Brahms von einer Konzertreise aus Graz:
„... die herrliche Tour über den Semmering war entzückend und labte das wehmütige Herz
so, dass ich ganz gestärkt hier ankam“.
In Wien entstand das erste Reisebüro und veranstaltete Aussichtsfahrten auf den Semmering.
Dazu ein interessanter Zahlenvergleich: zu den Weltcup-Schirennen im Dezember reisen in den
letzten Jahren regelmäßig etwa 20.000 Besucher an. Zu Pfingsten 1857 kamen allein aus Wien
55.000 Schaulustige mit der Eisenbahn auf den Semmering.
Natürlich gab es auch damals schon Extremfälle: Peter Rosegger berichtet uns, dass er in der
Mürzzuschlager Restauration
„zwei Söhnen Albions gegenüber saß, die während desselben Tages und der
vorhergehenden Nacht sechsmal über den Semmering gefahren waren“.
Sechsmal die selbe Strecke hin und her wurde – wenn auch pro Woche – im Großraum London
schon Mitte des 18. Jahrhunderts für Zehntausende zum Normalfall: die Eisenbahn machte es
möglich, das Wohnen im Grünen mit den täglichen Geschäften in der City problemlos zu verbinden.
Bei uns entstand zunächst eine Art Mischform: die Sommerfrische in Pressbaum bei Wien mag als
Beispiel dienen. Geschäftsleute und Industrielle konnten den Sommer mit ihrer Familie am Land
verbringen und waren dennoch in knapp vierzig Minuten in der Stadt. Ein Umstand, der von
Johannes Brahms bei seinem Sommeraufenthalt 1881 nahezu wöchentlich ausgenutzt wurde. Wie
er ja übrigens auch bei seinen Aufenthalten in Mürzzuschlag immer wieder einmal kurz nach Wien
fuhr.
Die Sommerfrische für das Bürgertum war im wesentlichen eine Folge des Eisenbahnbaues:
Reichenau, Mürzzuschlag, später nach der Fertigstellung der Kaiserin Elisabeth-Westbahn 1860
und vor allem der Salzkammergutbahn 1877 das Salzkammergut, ebenso die Kärntner Seen.
Am 6. Juli 1877 schrieb Clara Schumann an Brahms etwas erstaunt:
„Also in Pörtschach bist Du? Hätte man nur eine Idee, wo das ist...“
( Johannes FORNER, Brahms, ein Sommerkomponist 1997. S. 131).
Die steigende Mobilität der Bürger - anders gesagt der Fremdenverkehr - brachte noch einen
Aspekt mit sich, der zumindest vom Adel durchaus nicht geschätzt wurde: nämlich den Verlust
der Exklusivität. Mit dem Bahnbau zur englischen Südküste zog sich der Adel zunehmend auf
Besitzungen in Schottland oder Irland zurück, die Riviera wurde bürgerliches Allgemeingut. Neue
Destinationen entstanden. Eine Entwicklung, die auch in der heutigen Zeit mit dem
Massentourismus zu immer exotischeren Zielen noch keineswegs abgeschlossen ist.
Wie Teile der damals neuen Reisegesellschaft gesellschaftlich eingeschätzt wurden, zeigt sich
in den Verhaltensregeln für Eisenbahnbenützer von Max von Weber. Der Sohn von Carl Maria
von Weber empfahl 1854, also im Jahr der Semmeringeröffnung, unter anderem:
Während der Fahrt halte man keine Stöcke oder Schirme vor sich im Wagen, noch
weniger bringe man sie an den Mund oder stütze den Kopf darauf. In Folge rascher
Verminderung der Geschwindigkeit könnte sonst Einstoßen von Zähnen und Gaumen
herbeigeführt werden“.
Nach der Einführung von Speisewagen ab etwa 1880 hieß es dann in Richtung „Familie Neureich“
noch drastischer:
„Achtung Kurve, Messer aus dem Mund!“
Im Kunstbereich war in Bezug auf die Exklusivität die Rede vom Verlust der sogenannten “Aura“.
Die Einmaligkeit eines Kunstwerkes an einem ganz bestimmten Ort blieb zwar physisch
unangetastet (im Gegensatz etwa zu den Korallenriffen auf den Malediven), verlor aber durch
die leichtere und auch billigere Zugänglichkeit den Wert der Abgeschlossenheit. Im Bereich der
bildenden Kunst bedeutete dies zunächst in erster Linie eine Einbahnstraße der Betrachter in
Richtung Kunstwerk. In der Musik brachte die Eisenbahn eine Intensivierung in beiden
Richtungen: einerseits konnten mehr Menschen zu einem Konzert oder einer Opernaufführung
anreisen. Andererseits waren die Künstler unter den Ersten, die von der neuen Mobilität Nutzen
zogen und in Form von Gastspielreisen neue Zuhörerkreise erreichten.
Als Beispiel für diese Reisetätigkeit habe ich bei Johannes Brahms das erste Halbjahr 1884
herausgegriffen:
Im Jänner Konzerte in Wiesbaden und Berlin, im Februar in Meiningen, Leipzig, Köln,
Düsseldorf, Barmen und Amsterdam, im März Essen, Dresden und Frankfurt. Dann im
Mai die (vierte) Italienreise: Trient, Gardasee, Genua, Mailand und Comersee und
schließlich im Juni vor seinem Sommeraufenthalt in Mürzzuschlag noch ein Konzert in
Düsseldorf.
Ein Reiseprogramm, das 50 Jahre zuvor einfach von der dafür notwendigen Reisezeit her
nicht vorstellbar gewesen wäre. Eine weitere Neuerung in diesem Zusammenhang waren die
Gastspielreisen ganzer Orchester. Im November 1885 stellte Brahms seine hier in diesem Raum
komponierte 4. Symphonie auf einer Gastspielreise zusammen mit der Mannheimer Hofkapelle
innerhalb weniger Tage in zehn deutschen und niederländischen Städten vor.
Giuseppe Verdi war schon zehn Jahre vorher mit einem – wenn auch kleineren - Ensemble nach
Wien unterwegs. Bei seinem ersten Besuch 1843 hatte die Reisezeit von Mailand nach Wien noch
mindestens 10 Tage betragen. Danach hatte Verdi – vor allem aus politischen Gründen - die
Kaiserstadt 32 Jahre lang gemieden. 1875 kam er dann wieder für einige Tage. In diesem Jahr
waren Wien und Mailand bereits durch vier verschiedene Bahnstrecken miteinander verbunden.
Für vier Aufführungen seines Requiems schickte Verdi den Dirigenten Franco Faccio für die
Chorproben und auch für die Generalprobe voraus und brachte die vier Solisten mit, von denen
Teresa Stolz und Maria Waldmann schon die Uraufführung in Mailand gesungen hatten.
Ein lokaler Bezug lässt sich hier zwar nicht mit der Eisenbahn, aber mit Brahms herstellen, wenn
Eduard Hanslik zwar die Aufführung lobte, aber meinte, dass
„so kindisch wohl niemand sein werde, Verdis Manzoni – Messe mit dem Deutschen
Requiem von Brahms auf eine Höhe zu stellen“.
Noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen muss man bei Johann Strauss und seiner Beziehung
zur Eisenbahn: er war schon zwischen 1856 und 1865 neunmal in Pawlowsk auf Einladung der
dortigen Eisenbahngesellschaft. (Die kurze Bahnstrecke bei St. Petersburg wurde 1838 vom Wiener
Ingenieur Gerstner erbaut). In den ersten Jahren seiner sommerlichen Gastspiele fuhr Strauss mit
der Bahn nach Stettin und von dort weiter mit dem Schiff. Dass Johann Strauss im Sommer 1872
einen Vertrag mit der Zarskoe – Selo – Eisenbahngesellschaft über Konzerte in Pawlowsk nicht
einhielt, sondern einer lukrativeren Einladung nach Boston in die USA folgte, mag wohl „heut zu
Tage“ für eine von Künstlerabsagen geplagte Salzburger Festspielpräsidentin auch kein wirklicher
Trost sein.....
In Wien jedenfalls entstanden rund um das Thema Eisenbahn zahlreiche volkstümliche
Kompositionen. Josef Lanner machte schon 1835 den Anfang mit seinem Dampf-Walzer, die
Strauß-Dynastie widmete insgesamt 12 Stücke der Eisenbahn, die meist auf Bällen zur
Uraufführung gelangten. Eisenbahn-Lustwalzer – Vergnügungszug - Auf Ferienreise –
Reiselust – Von Land zu Land. Carl Michael Ziehrers Vergnügungszügler, durchwegs Titel, die
zeigen, dass das neue Verkehrsmittel Eisenbahn schon nach kurzer Zeit – in heutiger Diktion
würde man sagen - durchaus positiv besetzt war. Dazu kamen schon in den ersten Jahren allein
in Wien fünf Possen zum Thema Eisenbahn, durchwegs große Erfolge im Theater an der Wien und
in der Josefstadt. Darunter auch die bereits erwähnten Eisenbahnheiraten von Johann Nestroy.
Der bekannte Eisenbahn – Grantler und Gegner jeglicher rascher Ortsveränderung, Franz Grillparzer,
blieb da wohl in der Minderheit......
Gegen Ende würde ich gerne nochmals auf den Faktor Zeit zurückkommen, weil sich hier im Gefolge
der Eisenbahn noch eine wichtige Neuerung für das Zusammenleben und vor allem die
Kommunikation der Menschen ergeben hat: nach der vermeintlichen Vernichtung der Zeit, von der
wir zuvor gesprochen haben, wurde den Menschen nun durch die Eisenbahn tatsächlich ihre lokale
Zeit genommen. Im Postkutschenzeitalter war es ja kein Problem, dass etwa die Londoner Zeit
14 Minuten früher war als die Lokalzeit von Bridgewater. Die Bahn benötigte jedoch für ihre
überregionalen Fahrpläne einheitliche Zeitangaben. Doch diese Vereinheitlichung ließ noch 50 Jahre
auf sich warten.
Der Fahrplan des ersten Orient-Express-Zuges von Paris über Wien nach Varna am Schwarzen
Meer kennt im Oktober 1883 noch immer nicht weniger als sieben verschiedene Lokalzeiten wie
etwa die Stuttgarter Zeit, die Münchner, Prager, Pester und Bukarester Zeit. Erst seit 1884 war
einheitlich die Mitteleuropäische Zeit in Verwendung.
Zuvor hatten die einzelnen Bahnen ihre eigenen Zeiten, die sich meist nach dem Firmensitz der
Gesellschaft orientierten. Das hat etwa in den USA zu der skurrilen Situation geführt, dass sich
am Bahnhof von Buffalo, der von drei Bahngesellschaften mit unterschiedlichen Firmensitzen
angefahren wurde, bis 1883 drei verschiedene Uhren mit jeweils unterschiedlichen Zeiten
befunden haben.
Und noch etwas hat sich im Zuge des Bahnbaus entwickelt, was mir als ehemaligem
Fernsehjournalisten ziemlich wichtig erscheint: das war die Nachrichtenübermittlung nahezu in
Echtzeit durch den Bau von Telegraphenleitungen. Denn Wien und Triest waren sich vor 150
Jahren reisemäßig zwar bis auf 17 Stunden nahe gekommen, nachrichtenmäßig aber gab es
durch die Telegraphie nochmals einen Quantensprung: eine Neuigkeit benötigte für ihre
Übermittlung nicht mehr Tage oder Stunden, sondern nur noch wenige Minuten.
Wobei Max von Weber, der ja ein anerkannter Eisenbahnfachmann war, im Zusammenhang mit
dem Telegraphen auf einen Umstand aufmerksam machte, der allen Buben im 19. und 20.
Jahrhundert, die irgend wann einmal Lokomotivführer werden wollten, wohl nicht so bewusst war:
der Lokführer wurde durch den vorgegebenen Schienenstrang, noch mehr jedoch durch die
sicherheitsmäßige und fahrplanmäßige Weiterleitung des Zuges von einer Telegraphenstation
zur anderen in den Augen von Max von Weber zu einem nahezu mechanischen Teil des
Transportmittels degradiert – mit den Aufgaben Beschleunigen und Bremsen - und hatte damit
wesentlich weniger Kompetenz als etwa der Kutscher einer Postkutsche oder gar ein
Schiffskapitän.
Nun ja, das hat an den Bubenträumen wohl trotzdem nichts geändert....
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer Fragestellung enden, die durchaus als
Einstimmung auf die nächsten Tage im Rahmen des Brahmsfestes gedacht ist. Eine Fragestellung,
die dem Historiker untersagt ist, dem Journalisten aber meist viel Vergnügen bereitet: nämlich die
Frage „was wäre gewesen, wenn.....“?
Neben Johannes Brahms war ja auch Richard Strauß ein sogenannter Sommer-Komponist, mit
langen Perioden schöpferischer Arbeit in der Sommerfrische. Ihn betrifft meine abschließende
„Was wäre gewesen, wenn“ – Frage. 1905 wurde die Eisenbahnverbindung nach Bad Gastein
eröffnet, Strauß war dann in der Folge mehrmals in Gastein und komponierte im Sommer 1913 –
wenn auch in der Brenta - die Klavierskizze seiner Alpensymphonie. Was wäre nun gewesen,
wenn die Bahn nicht nach Gastein gebaut worden wäre, wenn Richard Strauß daher nicht dorthin
gefahren wäre und damit auch eine andere Einstimmung auf die Bergwelt erfahren hätte. Hätte
die Alpensymphonie dann anders ausgesehen? Wäre das „Wasserfall-Motiv“ im Thema
„Aufstieg auf den Berg“ vorhanden oder nicht – oder ganz anders?
Wie gesagt, unzulässige Spekulationen. Aber trotzdem interessant, darüber nachzudenken,
wie weit die Eisenbahn die Entwicklung der Kunst mitbeeinflusst hat – nicht nur im
Allgemeinen, sondern vermutlich auch im Detail.