Ideal und Realität: das deutschsprachige Dalmatien-Bild
bei Paula von Preradović und Hermann Bahr
„Historische Themen in der südslawischen Literatur
und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts“
Seminar bei A.o. Univ. Prof. Dr. Alojz Ivanišević (2009)
In dieser Arbeit soll mit der Untersuchung von
deutschsprachigen Arbeiten der beiden bekannten österreichischen
Schriftstellerinnen bzw. Schriftsteller aus der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, Paula von Preradović und Hermann Bahr, bewußt ein Kontrast zur
südslawischen Literatur gesetzt werden. Wobei auch zwischen diesen beiden in so
ferne ein reizvoller Kontrast besteht, als sie sich mit unterschiedlichen
Epochen der dalmatinischen Geschichte beschäftigen (bei Paula von Preradović
müßte es korrekter heißen: der kroatischen Geschichte mit Fokus auf Dalmatien),
dennoch aber mit ähnlichen Formen der Beschreibung auch zu einem ähnlichen
Dalmatien-Bild kommen: Ereignisse der dalmatinischen Geschichte werden nicht nur
erzählt, sondern auch in Form von „Gesprächen" abgehandelt – bei Paula von
Preradović in fiktiven Gesprächen mit historischen Personen, bei Hermann Bahr in
seinen Schriften zur Zeitgeschichte mit tatsächlich geführten Gesprächen – die
Ergebnisse dieser „Gespräche" und auch die behandelten Persönlichkeiten werden
allerdings manchmal überhöht dargestellt und führen zu einem Dalmatien-Bild,
dessen Verhältnis zur Realität jedenfalls teilweise zu hinterfragen ist.
Es soll im ersten Teil zunächst Paula von Preradović behandelt werden, obwohl
die beiden historischen Romane „Pave und Pero" (1940) und „Königslegende" (1950)
in zeitlicher Abfolge deutlich nach den Werken Hermann Bahrs „Dalmatinische
Reise" (1909) und „Schwarzgelb" (1917) entstanden sind – ebenso wie die
Preradović - Gedichtbände „Dalmatinische Sonette" (1933) und „Verlorene Heimat"
(1951).
Es ergibt sich aber daraus deshalb eine „sinnvolle" Chronologie, weil
Preradović mit der „Königslegende" zunächst ins Mittelalter führt (in das letzte
Viertel des 11. Jahrhunderts) - auch mit den ausgewählten Gedichten - und dann
in „Pave und Pero" die Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts beleuchtet.
Bahr dagegen befaßt sich mit den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg,
wobei das von ihm gezeichnete Dalmatien – Bild durch ergänzende Schriften
hinterfragt werden soll: die Feuilletonauseinandersetzung zwischen Bahr („Neue
Freie Presse") und Baron von Chlumecky dem Jüngeren („Österreichische
Rundschau"), sowie den Briefwechsel zwischen Hermann Bahr und dem dalmatinischen
Statthalter Niko Nardelli (März 1909).
Paula von Preradović
Paula von Preradović wurde am 12. Oktober 1887 in Wien geboren. Ihr Vater
Dušan war Seeoffizier und Sohn von Generalmajor Petar von Preradović, der - ohne
den Namenszusatz „von" - als d e r kroatische Nationaldichter bekannt war und
als Dichter auch von den Serben anerkannt wurde. Paulas Großmutter Pave (Pauline
de Ponte), die jung gestorbene erste Frau von Petar von Preradović, war eine
Verwandte von Papst Pius IX. Helene, die Mutter von Paula von Preradović,
entstammte der Ofener Familie Falke von Lilienstein.
Die Familie Preradović übersiedelte 1889 nach Pola (Pula). Paula besuchte
dort bis zu ihrem 14. Lebensjahr die "Marineschule" (für Offizierskinder) und
war dann bis zur Matura im Institut der Englischen Fräulein in St. Pölten.
Danach lebte sie neun Jahre lang in Pula – einerseits geprägt durch die aktuelle
deutschsprachige Literatur am Beginn des 20.Jahrhunderts, andererseits durch
ihre Liebe zur „südlichen Heimat" und die am Balkan zunehmende politische
Unruhe.
„Man erlebte das alles zwar durchaus mit eingeborenen, heimischen
Augen, doch irgendwie mit sehsüchtigeren als den nur heimischen …
(ein - wie ich meine - prägender Satz für das Dalmatien – Bild der Dichterin). (1)
1913 übersiedelte Paula von Preradović nach Wien, heiratete 1916 den
Historiker und Publizisten Ernst Molden und lebte dann - nach Aufenthalten in
Kopenhagen und Den Haag - ab 1920 bis zu ihrem Tod am 25. Mai 1951 in Wien. Bei
zahlreichen Reisen nach Split und Dubrovnik ab Mitte der Zwanzigerjahre gab es
intensive Kontakte mit dem Kreis um den Bildhauer Ivan Mestrović und mit der
Dichterin (und Freundin) Camilla Lucerna. Um 1930 galt Paula von Preradović –
ursprünglich wie ihre Mutter eher liberal gesinnt – als anerkannte religiöse
Dichterin Österreichs. Die „Utriusque Austrie poeta" (2) hatte das „kleine Österreich"
verkraftet, befasste sich neben religiösen Themen aber in Gedichten und später
in Romanen ausführlich mit kroatischer und dalmatinischer Geschichte, zeitweise
glorifizierend, mit stark romantischen, „drängenden" Elementen versehen.(3)
Wie weit hier die Kontakte zu dalmatinischen Intellektuellen eine Rolle
gespielt haben, geht aus der vorliegenden Biographie und auch aus den
untersuchten Werken nicht explizit hervor. Da aber in den letzten Jahren des SHS
– Staates und in der Zeit des jugoslawischen Königreiches vor allem bei den
dalmatinischen Intellektuellen, die ja treibende Kräfte für die Schaffung von
„Jugoslawien" waren, die Euphorie einer Enttäuschung über den serbischen
Zentralismus gewichen war, kann zumindest die Frage aufgeworfen werden, ob das
Erleben der von Belgrad gesteuerten Repressionspolitik gegenüber Dalmatien bei
Paula von Preradović nicht auch dazu geführt hat, historische Themen im
Zusammenhang mit dem Wunsch nach Selbstbestimmung im eigenen Land aufzugreifen
und dabei historische Begebenheiten und historische Persönlichkeiten durchaus
auch mit poetischer Verklärung abzuhandeln.
Die dalmatinischen Sonette (1930 – 1932)
In den dalmatinischen Sonetten (4) werden im Vergleich zu den
vorangegangenen Gedichten im Zyklus „Verlorene Heimat" zwar die „adriatischen
Motive" verstärkt, aber es geht nicht mehr um „das verzehrend ersehnte und
geliebte Paradies aus Thymian und Lorbeer", sondern Preradović tritt dem
dalmatinischen Küstenland „sinnend gegenüber: dies Lustgeschrei aus meinem
Menschenmunde" (5) ist nicht mehr überschwenglich, sondern nachdenklich.
Dem in dieser Arbeit angestrebten chronologischen Ablauf entsprechend soll
zunächst auf Bischof Grgur eingegangen werden. Dieser „Bischof von Enona" (Nin)
war als „Episcopus Chroatorum" direkt dem Papst unterstellt und mit der
kirchlichen Verwaltung des ganzen kroatischen Reichs betraut. In den Synoden von
Split 925 und 928, in welchen es um den Primat in Dalmatien und Kroatien ging,
war er ein erbitterter Gegenspieler des Erzbischofs von Split.
Das Standbild des Grgur Ninski wurde von Ivan Mestrović geschaffen und steht
in Split auf dem freien Platz hinter dem Diokletianpalast. Dass dieses Standbild im
Bewusstsein der Dalmatiner eine überaus Identität stiftende Rolle spielt, zeigt die
Tatsache, dass die Italiener 1941 unmittelbar nach ihrer Besetzung Splits die
Statue entfernten,
Das Standbild diente Paula von Preradović als Vorbild für ihr
Sonett: (6)
Du stehst gebogen, Bischof, Riese, Mann, wie eine Sehne, die der Pfeil
gespannt,
Und der gestreckte Finger deiner Hand tut allen Widersachern Drohung an.
Ob du auch milde priesterlich umtan, mit faltig fallend geistlichem Gewand,
Da war kein König, der so herrisch stand, so kämpferisch und keinem Untertan.
Du hältst das Buch, um das dein langer Kampf, mit allen Mächten dieser Erde
ging,
In deiner Linken, in gewaltgem Krampf.
Dein Mund steht auf, der vieles Harte sprach, und kühner Rede zäh sich
unterfing:
Die Könige und Rom selbst gaben nach.
Im zweiten Teil des Sonetts folgt dann die Überlegung, welchen Eindruck und
welche Ängste Grgur wohl erzeugen würde, könnte er in der heutigen Zeit von
seinem Postament herabsteigen: Hier die letzte Strophe:
Dein Fuß in der Sandale riesenhaft, er schritte eilends, und ihn hemmte
nichts.
Und Split erzitterte vor deiner Kraft.
Angesichts der damaligen politischen Situation in Dalmatien könnte die
Botschaft dieses Sonetts - kurz gefasst – wohl lauten: Nur Mut, liebe
Dalmatiner. In der Vergangenheit konnte man auch Könige und Päpste durch
selbstbewusstes Auftreten zum Nachgeben zwingen. Und „das heutige" Split mag
vielleicht vor Bischof Grgur erzittern, nicht aber vor den zentralistischen
Serben in Belgrad …
Die Königslegende (1950) (7)
Die „Königslegende" ist zwar erst im Jahr vor ihrem Tod fertiggestellt
worden, hat aber Paula von Preradović schon einen Großteil der Vierzigerjahre
beschäftigt. Im Zentrum der „Königslegende" steht das Schicksal des kroatischen
Königs Petar Slavić (1074 – 1975) – eingebettet in die politischen,
gesellschaftlichen und vor allem religiösen Verhältnisse im damaligen Dalmatien.
Diese Verhältnisse sollen zunächst näher beleuchtet werden, zumal Preradović
in einem Brief an Camilla Lucerna im Oktober 1949 selbst davon schrieb, sie habe
eine größere Erzählung, „die jenen von manchen Historikern sogar in seiner
Existenz angezweifelten König Slavac zum Gegenstand hat, beendet".
Im Klappentext der Erstausgabe betonte sie: „Das Archaische jenes sagenhaften
Raumes … wird menschlich nachgeschaut und gedeutet".
Zur Zeit des Slavić – Vorgängers König Petar Krešimir (1058 – 1073) kann man
in Dalmatien von zwei Gruppierungen sprechen: auf der einen Seite der König, der
höhere Klerus und die größeren und finanzstarken romanischen Städte an der Küste
– etwa Zara (Zadar), Zaravecchia (Biograd na moru), Spalato (Split) und Ragusa
(Dubrovnik), zwar im Wesentlichen autonom, aber seit 1000 zumindest handels- und
machtpolitisch mit Venedig verbunden - mit lateinischer Kultur und dem römischen
Klerus ergeben. Mit der päpstlichen Unterstützung dieser Städte - „dem
kroatischen Nationalstaate nichts weniger als freundlich gesinnt - … kamen die
national-kroatischen Herrscher immer mehr unter Einfluss und Abhängigkeit
antinationaler Elemente"
Dem gegenüber stand vor allem im Hinterland eine „national-kroatische"
Partei, die nicht nur Politik und Sitten der kroatischen Stämme erhalten wollte,
sondern im kirchlichen Bereich vor allem für die Bewahrung der slawischen
Liturgie eintrat. Der Konflikt wurde durch die Kirchenreformen der Päpste
Alexander II. und Gregor VII. verstärkt (10). Krešimir hob – auf Drängen der
romanischen Städte - die kroatische Sprache in der Kirche von Staats wegen auf.
Nach dem Tod von Krešimir wurde daher nicht dessen ebenfalls „lateinischer‘"
Neffe Stjepan von der „kroatischen Mehrheit" zum König gewählt, sondern Petar
Slavić - Banus aus dem im Narenta (Neretva) -Tal beheimateten Kačići – Stamm (11).
Stjepan musste ins Kloster San Stefano in Split gehen (12). Er wurde
allerdings dann nach der Ermordung des Slavić – Nachfolgers Dimitrij Zvonimir
(1076 – 1089) doch noch zum König gewählt, starb aber bereits 1091. Nach ihm
regierte noch Petar Svačić, der letzte „einheimische" kroatische König (1093 –
1097), der in der Schlacht von Gvozd gegen die Ungarn fiel.
König Slavić beharrte auf der slawischen Liturgie, war Gegner der „Lateiner"
und Verbündeter des byzantinischen Kaisers. Er regierte nur knapp ein Jahr,
wurde dann von einem unter Führung von Comes Amicus in Dalmatien gelandeten
Normannenheer gefangen genommen und verschwand „für immer" (13).
Zu dieser Zeit beginnt die Erzählung von Paula von Preradović. Sie konnte
sich dabei auch auf eine historische Forschung ihres Vaters stützen, in der die
Begleitumstände dieser Normannen – Landung untersucht wurden und die weitere
Fragen aufwarf. (14). Vor allem: wer hatte die Normannen gerufen und wann
wurde König Slavić gefangen genommen? (15).
Zur Normannenfrage gibt es verschiedene Theorien, ein „reiner Raubzug" ohne
politischen Hintergrund ist jedoch auszuschließen. Cattalinich meint, „die
dalmatinische Bevölkerung" selbst (16) habe die Normannen gerufen, bei Ivo
Pilar war es „die mächtige lateinische Partei" im Land.(17). Dušan von Preradović
vermutet, dass die Landung von Papst Gregor VII. „betrieben" wurde, obwohl eine
„Verbindung Gregor – Comes Amicus … nicht nachweisbar" wäre.(18). Šišić
schließlich schreibt, der päpstliche Legat Gerhard, Erzbischof von Sipont, dürfte
wohl „den Gegnern des Königs Slavac geraten haben, den Grafen Amikus zu
Hilfe zu rufen", wobei die Verhandlungen zweifellos „mit des Papstes Wissen"
erfolgt wären. (19).
Paula von Preradović reduziert die Antwort auf diese Frage allein auf den Papst. Auf
dem wochenlangen Zug nach Split als Gefangener der Normannen (und
„verräterischer Kroaten") nach der verlorenen Schlacht lässt sie König Slavatz (so
wird er im Roman geschrieben) über die vergangenen Monate nachdenken. Hatte er
als König der Kroaten mit seinem Kurs gegen den römischen Papst einen falschen
Weg eingeschlagen? „War es für einen König der Kroaten nicht möglich, für den
Basileus und gegen den römischen Papst zu sein?" Hatte er sich überhaupt behaupten
können, wenn er „alle westlich und lateinisch Gesinnten, die dalmatinischen
Küstenstädte, die römische Geistlichkeit, das mächtige Venedig, die vom Papst
herbeigerufenen Normannen und vor allem ihn selbst, den Gewaltigen und
Willensstarken, Hildebrand, der nun Papst Gregor VII. hieß, gegen sich hatte?" (20).
Jenen Gregor VII., der ihm zu Ostern den päpstlichen Legaten Gerhard nach
Biograd geschickt hatte, weil er „gern manchen unklaren Punkt mit dem König der
Kroaten bereinigt und Verständnis und Freundschaft statt Argwohn und Misstrauen
gesetzt sähe" - und er hatte den Legaten nicht empfangen. Damals hatte er sich
„gefreut und vor sich selbst mit seiner kühnen Handlungsweise gebrüstet … Nun
wusste er, dass er dazumal den Papst auf frevelhafte Weise herausgefordert
hatte". (21).
Soweit die „späte Einsicht" von König Slavatz.
Auf dem Zug nach Split lässt Preradović dem König eine „Vila" erscheinen,
eine südslawische Sagengestalt, Mittelding zwischen Fee und Dryade und den
„Helden" als „Schwester" zugeselltes Naturwesen. Typisch für dieses in den
Heldenliedern vorkommende Wesen ist dann das „Gespräch" zwischen den beiden.
Die Vila sagt zu ihm:
„Immer wenn du königlich und heldisch verfuhrst. Da du auf euren Schiffen die Narenta
hinunter segeltest, da man dich krönte, da dein Knabe geboren wurde. Da war ich
dir nahe, aber du sahst mich nicht …. Mich sieht nur, wer geprüft und
schmerzerfahren ist"
„Warst du auch in der Schlacht an meiner Seite?"
„In der Schlacht floh ich dich, denn du warst der Unterlegene".
„Warum hast du mir nicht geholfen. Warum hast du das Unglück nicht
abgewendet?"
„Wir Vilen stärken und vermehren das Glück der Glücklichen. Unglück
abzuwenden sind wir nicht gesandt". (22).
Die Vila ist gekommen, um sich jetzt vom glücklosen König zu verabschieden
und prophezeit ihm sein (Roman) – Schicksal: er werde künftig auf einer kleinen
Insel fern der Heimat als einfacher Fischer leben.
In Split spielt eine Schlüsselszene des Romans: vor seiner Fahrt, die ihn
über die Insel Lissa (Vis) an seinen Verbannungsort bringen wird, erhält der im
Benediktinerkloster gefangene König den Besuch eines jungen Mönchs, der sich als
König Krešimirs Neffe Stjepan zu erkennen gibt. (23).
Stjepan bezeichnet sich als Slavatz` „Bruder im Verzicht". Erst musste er „vom
Stamme Kačić gezwungen, hier im Kloster verschwinden", nun müsste Slavatz
verzichten - ob er wolle oder nicht - weil sie bereits dabei wären, „einen neuen König
zu bestimmen". (24).
Er selbst – so Stjepan – habe seine anfängliche Wut im Kloster überwunden und
gelernt, „dass wir geborgen sind, wenn wir Gottes Willen annehmen". Darauf entgegnet
Slavatz: „Was mir geschehen ist, war nicht Gottes Wille, sondern der Wille böser Menschen".
Und Stjepan nimmt mit seiner Entgegnung jene Situation vorweg, die 14 Jahre
später dann tatsächlich eintreten wird:
„Warum sagst du – böser Menschen? Weil sie anders wollten als du? Du hast erstrebt und
getan, was gegen die wahren Zeichen der Zeit war. Sieh, Slavatz, ich bin unseres
heiligen Vaters Benedikt von Nursia demütiger Sohn. Aber sollte man mich eines
Tages doch noch auf den Thron rufen, so würde ich folgen, denn ich bin der legitime
Erbe. Nicht aus Lust und Ehrsucht würde ich folgen, sondern aus Pflicht. Und dann
würde ich mit Gottes Hilfe versuchen, den heiligen Willen und Brauch des Volkes, seine
tiefe und wilde Liebe zu den eigenen uralten Wurzeln mit der neuen großen Ordnung zu
versöhnen, die im Abendland herrscht und die auch das kroatische Volk einbeziehen will.
Wir sind keine Morgenländer. Unsere Berge und unsere Küsten blicken nach Abend.
Wir gehören zur abendländischen Christenheit, dem Basileus sind wir viel zu fern."
Und schließlich endet Stjepan mit der Conclusio, dass "unser Volk fest in der eigenen
Erde wurzeln, aber nach Westen schauen muss". (25).
Hier wäre wohl anzumerken, dass Paula von Preradović diesen Text zu einer
Zeit geschrieben hat, in der der Kommunismus in Jugoslawien an der Macht und in
Ostmitteleuropa im vollen Vormarsch war.
23 Jahre nach der Gefangennahme – etwa um 1098 - und somit vier Jahre vor den
„pacta conventa" - der Personalunion von Kroatien mit Ungarn - endet der Roman.
Der ehemalige König lebt als Fischer auf einer kleinen Insel (offenbar vor
der apulischen Küste), von den Inselbewohnen kennen nur zwei seine wahre
Herkunft: ein alter Mönch (der ihm bald nach seiner Verbannung die Nachricht
gebracht hatte, dass seine Frau, die Königin, an einer Seuche gestorben wäre)
und seine zweite Frau, die er danach auf der Insel geheiratet hatte und mit der
er drei fast schon erwachsene Söhne hat.
Nach einem Sturm landet ein kroatisches Fischerboot mit einem blinden Sänger
- einem sogenannten Guslar. Dieser erklärt sich bereit, gegen ein entsprechendes
Geschenk ein Lied über die letzten kroatischen Könige zu singen. Er begleitet
sich dabei mit dem einsaitigen Streichinstrument, der Gusla.
Der Guslar begann mit der verlorenen Schlacht gegen die Normannen. König
Slavatz wäre tot auf dem Schlachtfeld geblieben und „zur Strafe, weil er ein Ketzer
gewesen, habe niemand ihn beerdigt, und zwei Amseln hätten ihm die Augen
ausgehackt." Der ehemalige König hörte aufrecht sitzend zu, während seine
Söhne riefen: „Dem Ketzer ist recht geschehen."
Es folgte ein Lied über den edlen und weisen König Zvonimir. Reichtum und
Wohlfahrt hätten unter seiner Herrschaft zugenommen, aber als er beim Sabor in
der Nähe von Knin im Namen des Papstes die Kroaten aufgefordert hatte, sich
einem Kreuzfahrerheer anzuschließen, hätte die Männer so großer Zorn gepackt,
dass sie „ihm die Krone vom Haupt und die kostbaren Kleider vom Leib gerissen
und ihn mit vielen Dolchstichen getötet hätten".
Schließlich der nächste Abschnitt des Liedes:
„In der Kirche fromm Mönch Stjepan kniete, Königserbe einst, doch
eingeschlossen In das Kloster, da der Ketzer Slavatz aus dem Kačić-Stamme
König wurde.
Ohne Recht, doch mit Gewalt gewählet. – Kamen hohe Boten in das Kloster,
Riefen vom Gebete fort den Stjepan, ihm verkündend: König sollst du werden,
Denn es fiel im Kampfe König Slavatz, denn es ward bei Knin der fromme König
Dimitrije Zvonimir ermordet. Also bist du, Stjepan, nun der Erbe". (26).
Der Guslar berichtete, dass König Stjepan mit Weisheit und Gerechtigkeit,
alle Gegensätze versöhnend, regiert habe - aber bald vom Fieber hinweggerafft
wurde.
Dann habe die Witwe des in Knin ermordeten Zvonimir, Jelena, den
„schlimmsten Feind, die Ungarn" ins Land gezogen und um sie aufzuhalten, hätte
das Volk nochmals einen Kačić zu König gewählt: Petar Svačić, den Neffen des
Ketzerkönigs. Denn „ein mächtiger und wilder Stamm seien die Kačić. Die Meere
beherrschten sie, und schwer sei es, ihrem Zorn zu widerstehen. Die Ungarn aber
seien gekommen, tückisch wie eine Windsbraut …"
Das Lied endete mit der Schlacht von Gvozd:
„In der Waldschlucht liegen tausend Tote, stumm im Blute, tausend und noch
einer,
Peter, König aus dem Stamme Kačić, Peter, letzter König der Kroaten". (27).
Um es in wenigen Sätzen zusammenzufassen: mit ihrer Schilderung wird Paula
von Preradović der „historischen Wahrheit" gerecht, aber – obwohl 1950
geschrieben – im Sinn einer „späten Romantik", für „echten Glauben" und gegen
„fremde Sitten" und eigentlich – im Sinne von Klaić: national motivierend mit
Stützung auf historische Quellen „dem Volk Geschichte erzählend".
In diesem Sinn gehört der Abschluss den Söhnen des früheren Königs. Nachdem
der Guslar geendet hatte, erhoben sie „mit glühenden Wangen ein aufgeregtes
Geschrei, s i e hätten in der Gvozder Schlacht dabei sein müssen, dann hätte der
verfluchte Ungar niemals den tapferen König besiegen können ….."
Der „Ketzerkönig" aber findet – ganz im Sinn der großen religiösen Dichterin
– seinen Frieden mit Gott.
Zar Dušan
Der chronologische Ablauf dieser Arbeit soll fortgesetzt werden mit einem –
so zu sagen –
doppelten „Einschub": einerseits durch einen Wechsel nach Serbien
und andererseits
durch das berühmte Gedicht von Großvater Petar Preradović, „Zar
Dušan." (28).
Dušan, 1346 in Skopje zum „Kaiser der Serben und Griechen" gekrönt, war der
bedeutendste mittelalterliche Herrscher Serbiens. Bei seinem Tod 1355 hatte
Serbien seine größte Ausdehnung. Im Norden von Belgrad südlich der Drina bis zur
Küste bei Kotor und im Süden von der Halbinsel Chalkidike im Osten bis zum Golf
von Patras im Westen. Darauf wurde vor allem von den Nationalisten im 19. und
20. Jahrhundert Bezug genommen, wenn es darum ging, Serbiens
Expansionsbestrebungen zu rechtfertigen. Dušans Tod am 20.Dezember 1355 in einem
Feldlager auf dem Weg nach Byzanz schildert Paula von Preradović in der Ballade
„Das Sterben im Wald" (1945) (29). Darin lässt der strebende Kaiser alle Großen
des Landes seinem Sohn Uroš die Treue schwören, vor allen den „mächtigen
Vukašin".
Und die junge Vila steigt herab,
„wissend, dass der größte Serbenkaiser, noch an diesem Tage sterben wird ….
Unsichtbar gelehnt an Bettes Pfosten, sieht sie schaudernd in der bösen
Zukunft
Vukašin den Zaren Uroš töten, sieht in Zwietracht sie das Reich zerfallen,
sieht den Türken sie das Land besitzen, untergehn Nemanjas stolzes Haus".
Bei Petar Preradović‘ „Zar Dušan" steigt der Kaiser um Mitternacht aus seinem
Grab, weil er sich nach seinem Thron und nach der Macht sehnt. Er ruft seine
Vila und das Gedicht endet mit dem folgenden Zwiegespräch:
„Es dürstet mich nach Tag und Zeit, und nach des Thrones Herrlichkeit.
Ach sag mir, was zu dieser Frist, noch mein vom alten Reiche ist.
Die Vila ihn gar wohl versteht, sie nimmt ihn bei der Hand und geht,
mit ihm um seine Gruft herum und spricht: du hast dein Kaisertum umschritten
mit dem Grab zugleich. Sonst blieb dir nichts von deinem Reich.
Da war Zar Dušan starr wie Stein, er legt sich in sein Grab hinein
Voll Traurigkeit, und sein Begehr geht nach dem Leben nimmermehr".
Die Patrizier von Ragusa (30)
Mit diesem Ausschnitt aus den „Dalmatinischen Sonetten" soll der Übergang ins
19. Jahrhundert und zum abschließenden großen Roman „Pave und Pero" erfolgen.
Es geht im Sonett um das Ende der Unabhängigkeit der Republik Ragusa durch
die französische Besetzung unter Napoleon. Wobei kritische Stimmen am Beginn
des 20. Jahrhunderts vermerkten, dass in den wenigen Jahren unter General
Marmont mehr für die Infrastruktur Dalmatiens – mit Straßen-, Hafen- und
Verwaltungsbauten – geschehen wäre als in den folgenden 100 Jahren unter
Österreich. Dennoch – der Verlust der Freiheit kann offenbar bei Paula von
Preradović durch nichts kompensiert werden:
Ihre Häuser stürzen zu Ruinen, ohne Dächer stehn die stolzen da,
wenn nicht jenes Schlimmere geschah, dass sich fremde Hand erfrecht nach
ihnen.
Keine Erben wurden mehr geboren in die Knechtschaft, wie’s Marmont zum Trotze
die Ghetaldi, Bonda, Pozza, Gozze
anno Achtzehnhundertacht geschworen.
Enkel ihrer freigelassnen Kmeten, Fremde, Gaffer, Lumpenhunde treten jetzt
das heilige Pflaster des Stradon (32).
Doch die Alten, nie gebeugter Seele,
(alle sind nun bald versammelt schon) schlafen auf dem Friedhof San Michele.
Pave und Pero (33)
Vordergründig ein großer Liebesroman über die wenigen glücklichen Jahre der
Dalmatinerin Pave aus Lukoran (Insel Ugljan) und des kroatischen Offiziers Pero
(aus der Militärgrenze) von 1846 bis zum tragischen Ende 1855 (die kranke Pave
begeht nach dem Seuchentod ihrer Lieblingstochter Selbstmord) – und offenbar als
solcher kurz nach seinem Erscheinen 1940 auch in 2. Auflage bereits vergriffen.
Tatsächlich aber ein großer zeitgeschichtlicher Roman über die Großeltern von
Paula von Preradović. Ein „historisches Portrait der großösterreichischen Heimat,
ein österreichisches Buch in der zerrissenen Gegenwart" (34).
Paula von Preradović konnte für den Roman auf einen umfangreichen
Schriftwechsel zwischen Paolina und Petar von Preradović zurückgreifen –
übrigens durchwegs in italienischer Sprache abgefasst. Und sie konnte – bei
aller Einbettung in das habsburgische Reich – der romantischen Sehnsucht des 19.
Jahrhunderts nach einem eigenen „illyrischen" Nationalstaat unter Einbeziehung
Dalmatiens ohne große Einschränkungen nachgeben – im Wissen um die historische
Entwicklung gegen Ende der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. Kroatien hatte
unter Einschluss Dalmatiens und von Teilen der Herzegowina seit August 1939,
nach dem sogenannten „sporazum", innerhalb des Königreiches Jugoslawien eine
weitgehende Autonomie von der Zentralregierung in Belgrad erreicht, das
Ustaša-Regime wurde erst im Jahr nach Erscheinen des Buches errichtet.
Auf zwei Passagen im Roman mit bedeutenden historischen Persönlichkeiten soll
näher eingegangen werden.
Es geht dabei um die Versuche, aus den verschiedenen südslawischen Dialekten
eine gemeinsame „serbo – kroatische" Sprache zu formen. Kroatisch in seinen drei
Dialektformen und zusätzlichen Abarten war die Sprache des einfachen Volkes und
galt als nicht geeignet für Forschung, Wissenschaft und Literatur. Die
gebildeten Schichten sprachen Latein, Deutsch oder Italienisch.
Ljudevit Gaj
Der erste Teil des Romans „Pave und Pero" spielt im Frühling 1847. Pero ist
auf der Rückreise von seiner mehrmonatigen Stationierung in Budapest nach
Lukoran, um seiner Pave die betrübliche Mitteilung zu überbringen, dass sein
Regimentskommandant die Heiratserlaubnis glatt verweigert habe („er will keine
verheirateten Oberleutnants") und daher die geplante Hochzeit verschoben werden
müsse.
Er unterbricht die Reise für acht Tage in Zagreb zur „Bekanntschaft mit
hiesigen Patrioten" (35) und wird von seinem Dichterfreund Stanko Vraz (36) in
den Salon von Josefine von Vancaš (37) eingeführt, in dem regelmäßig Vertreter
der illyrischen Idee zusammenkommen. Vraz:
„Sie hat eine feurige Seele und die illyrische Sache kann nirgendwo
heller brennen als in ihrem edlen Herzen".
Der in Kroatien bereits bekannte junge Dichter Pero wird von ihr mit den Worten
empfangen:
„Hier ist er, den wir aus der Ferne geliebt haben. Unser dalmatinischer
Sänger, unser illyrischer Bruder, unser Wanderer, unser Putnik".
Im Salon trifft er mit Ljudevit Gaj (38), dem Führer der illyrischen Bewegung
und Schöpfer der modernen kroatischen Schriftsprache zusammen. Gaj hatte das vom
Grafen Janko Drašković formulierte Programm des Illyrismus im berühmten Lied
„Noch ist Kroatien nicht gefallen" zusammengefasst und das gewünschte künftige
großillyrische Königreich mit dem Begriff der "Lyra Europas" auf die drei Eckpunkte
Skutari, Varna und Villach ausgeweitet. Dass in diesem Gebiet - unter Führung der
Kroaten - also auch Serbien und Bulgarien enthalten waren, war für die geplante
Einigung der Südslawen nicht gerade förderlich. Die zunehmende „Verschärfung der
politischen Ziele des Illyrismus" führte schließlich 1843 dazu, dass die „mittlerweile
als Partei organisierte Bewegung und ihr Name verboten" wurden. (39).
Gaj will von Pero wissen, ob er in Zadar weiterhin bei der Herausgabe der Zeitschrift
„Morgenröte" (40) tätig sein würde?
„Nirgends vielleicht bedürfen wir so sehr eines befeuernden Anwalts und
tapferen Vorkämpfers unserer großen Sache wie in Dalmatien, wo, wie wir
wohl wissen, die Widerstände bedeutend sind".
Pero bestätigt dies:
„Die Dalmatiner sind Separatisten. Eine gemeinsame Orthographie, ein einiger
Dialekt, die der Zusammenschweißung des Volkes zugrunde liegen müssen, sind
ihnen ein Gräuel, ja sie scheinen ihnen eine wahre Ketzerei. Man kann leider
sagen, dass es in Dalmatien keine sieben erwachsenen Leute gibt, die sich als
Kroaten, als Illyrer, als Südslawen fühlen. Die Jugend aber ist anders. Sie müssen
wir ergreifen, aufrütteln und entzünden".
Gaj antwortet:
„Dass diese Jugend heute schon anders ist, daran haben Ihre Lieder den
Löwenanteil … Unser Gedanke schreitet fort, bald werden wir ein freies, einiges
Volk sein".
Aus seinem Blick strahlt ein warmes und überzeugendes Licht:
„Ist es nicht so, Brüder? Ist es nicht wundervoll, dass die Zukunft uns gehört,
dass wir die Zukunft sind?"
Pero fühlt sich erfasst von einer brausenden, jauchzenden Begeisterung, er … fasst Gajs
Hand mit starkem Druck und ruft mit bebender Stimme:
„Da unser Volk einen Mann wie Ljudevit Gaj hervorgebracht hat, darf keiner
mehr daran verzagen. Wo eine solche Blüte sich entfalten durfte, da ist die
Wurzel stark und gut!"
Es folgt ein wildes und freudiges Durcheinanderschreien und Siviorufen …..
Schließlich wird Pero aufgefordert, sein „schönstes Gedicht", den „Wanderer"
vorzutragen. Dazu muss man wissen, dass Petar von Preradović in seiner Jugend
fast nicht mehr Kroatisch gesprochen und seine ersten Gedichte auch nicht in
seiner Muttersprache, sondern in Deutsch verfasst hat. Er war ab seinem 12.
Lebensjahr an der Militärakademie Wiener Neustadt, wurde mit 20 Jahren k. k.
Offizier, entdeckte dann während eines längeren Aufenthaltes in Dalmatien seine
Muttersprache und seine Liebe zur kroatischen Heimat wieder und begann erst mit
24 Jahren kroatisch zu schreiben und zu dichten. (41)
Im „Putnik" (42) erzählt er in einem Gleichnis von einem Mann,
der vom eigenen Volk getrennt bei Fremden Zuflucht sucht. Und dieser „Wanderer"
wird zum „Heimkehrer": er bittet am Abend in einem fremden Haus um Aufnahme,
wird aber von der Hausfrau mit dem Hinweis abgewiesen, dass sie selbst für ihre
Töchter und Söhne nicht genug habe. Und sie fragt den Fremden:
„Sag, wo sind die Hände deiner Mutter, die des Sohnes Tränen trocknen
mögen?
Sag, wo ruhet aus dein müdes Knie, abzutun die Last vom Leibe -
Sag mir, hast du denn kein Heimatland?"
Der Abgewiesene besinnt sich darauf hin der eigenen Mutter – und er kehrt in
die vergessene Heimat zurück, zum eigenen Volk und zur eigenen Sprache.
„Dir, so ruft er, atmet diese Seele, dir schlägt wieder in der Brust das
Herz!
Heimatland, du allen Glückes Mutter, dir zurück kehrt wiederum dein Sohn!
Und die Freudenträne quillt und quillt.
Nimm dein Kind, nimm’s wieder auf, o Mutter; ewig, ewig wird es dir gehören,
dich nur lieben, dich zu jeder Zeit!
Lass es ruhn dereinst in deiner Erde,
Schmück mit deinen Blumen ihm das Grab!"
Ganz im Sinn des romantischen Nationalismus ist das Zimmer von „berauschter
Rührung erfüllt", als Pero mit den „beiden ergreifenden an die Heimat
gerichteten Versen" sein Gedicht mit der „beredten Klage und Glückseligkeit des
Heimgefundenen" ausklingen lässt. Josefine Vancaš flüstert Gaj zu:
„Er hatte auf den hohen Schulen das Kroatische so völlig vergessen, dass
er die eigene Mutter nicht mehr verstand … aber er ist wiedergekommen!"
Und Stanko Vraz feiert „unseren Petar, der mit seinen wenigen Liedern schon
mehr für die Heimat getan hat als wir mit all unserer emsigen Arbeit,
unserer Etymologie und Organisation".
Vuk Stefanović Karadžić (43)
Der zweite ausgewählte Teil aus Pave und Pero bringt uns in den Oktober 1854.
Pero ist Major und die Familie lebt in der Wiener Josefstadt. Mit zwei Besuchern
an einem Tag spannt Paula von Preradović den Bogen von der umfassenden
Habsburgermonarchie bis zu den südslawischen Einigungsbestrebungen –
zumindest im Bereich der Sprache.
Zunächst erhält Pave den Besuch (44) einer aus Ungarn stammenden, vorzüglich
italienisch sprechenden Gräfin (ihr Mann stammt aus Friaul – „da muss ich
wohl Italienisch sprechen").
Dass Pave in Kroatisch „sehr schwach" ist, will sie nicht gelten lassen. Ihr Mann
sei doch „etwas Besonderes". Er sei „kein gewöhnlicher Kroate … Ist er
nicht ein Dichter?" Da müsse Pave „ordentlich Kroatisch können …
Die Sprache unserer Männer müssen wir Frauen doch sprechen".
Und in Deutsch sei sie noch schlechter? Freilich sei das Deutsche schwer zu
lernen, sie als ungarische Patriotin, der Ungarisch von allen Sprachen die
herrlichste sei, habe sich selbst genug damit geplagt. Aber:
„eine österreichische Offiziersfrau m u s s Deutsch verstehen … das
ist die Sprache der Armee. Und Deutsch, das ist die Sprache eines
großen Volkes, eines tüchtigen Volkes. Wir können nur lernen, wenn wir
Deutsch verstehen".
(Dieser letzte Satz wurde übrigens von den Wiener Zentralstellen als
wesentliches Argument dafür verwendet, die Einführung des Kroatischen als
Unterrichtssprache an den höheren Schulen und an der Universität um Jahre
hinauszuzögern).
Kurze Zeit später erhält Pero einen nicht angemeldeten Besuch eines
„serbischen Herren". (45). Im Vorzimmer war ein alter Mann, dessen Anblick
den Major „in Gefühl und Gedanken mit einem Schlag in seine slawische Heimat
versetzte. Dichtes weißes Haar quoll dem Ankömmling unter einer länglichen
Pelzmütze hervor, weiße Brauen überbuschten kühne alte Augen, eine große
Adlernase sprang energisch vor, ein dicker weißer und sehr langer Schnurrbart,
dessen Enden spitz zuliefen, hing steif und steil übers Kinn hinaus". (45).
Der Fremde begrüßte ihn auf Serbisch:
„Ich bin der Vuk". Und nach einer Pause ohne entsprechende Reaktion des Majors:
„Bruder, ich bin Vuk Stefanović Karadžić. Kennst du mich jetzt?"
Pero reagierte mit großer Freude und stellte seiner „Pavica" den berühmten Gast vor,
der „unsere Volkslieder gesammelt und aufgeschrieben hat".
Karadzić wollte nicht stören. „Nur sehen wollte ich den Dichter, der den
Zar Dušan geschrieben hat … Ein feines Lied hast du da geschrieben,
Bruder … Ich kenne alle deine Gedichte …Du bist ein von Gott
Begnadeter. Aber der Zar Dušan, das ist dein schönstes".
Und Karadţić erzählt, wie er seit 40 Jahren in Serbien alten Volksliedern
nachspürt bei Bauern, alten Weibern und blinden Bettlern und sie aufschreibt,
um „mit diesen herrlichen, kräftigen frischen Liedern Zeugnis geben
zu dürfen für unseres Volkes Sprache, Wesen und Sein."
Als er angefangen hatte, tausende Wörter in Wörterbüchern und Grammatiken
einzufangen, hatte man die Sprache noch eine „Ochsenhirtensprache" geschimpft.
„Aber siehst du, Bruder, dass nun schon Dichter aufstehn und in dieser
unserer Sprache, ob man sie nun Serbisch nennt, wie ich, oder
Kroatisch, wie du … gedichtet wird im ganzen Land, siehst du Bruder,
das freut mich … Nicht alles, was die neuen Dichter … heute schreiben,
ist so schön und stark wie die altern Lieder … Aber dein Zar Dušan,
der nimmt’s auf mit jedem von den Liedern, der nimmt’s auf. Wie ich ihn
zuerst gelesen habe, sind mir die Tränen heruntergelaufen und ich habe
gewusst: der das geschrieben hat, der ist ein Rechter".
Auf Peros Stirn brennt „ein überweltliches, außermenschliches Glück".
„Wertvoll ist mir dieses Lob aus Ihrem Mund, Herr Doktor Karadžić .. aber
ich bin nichts anderes als eines Brunnens Mund … ich bin doch auch Volk,
so wie ihre Bauern, ihre alten Weiber … Wir Grenzer, wir sind Volk, Soldaten
und Bauern zugleich. Gibt es ein heiligeres Volkstum als dieses, das zugleich
nährt und wehrt!"
Karadţić sieht den Jüngeren „mit Ergriffenheit an":
„Ja Bruder, Volk bist du schon, aber du bist doch etwas anderes. Du bist
ein Künstler … der mitreißt. Dein Wanderer ist in aller Mund. Viele, die selbst
nichts können als dumpf fühlen und wirr denken, die führst du hinein
in die wache, stürmische Begeisterung".
Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass Paula von Preradović ihren Großvater
positiv überzeichnet, scheint dieses „Gespräch" zwischen dem alten Serben und
dem jungen Kroaten nicht wirklich unrealistisch zu sein. Das Wiener
Sprachenabkommen war erst vier Jahre alt, der Geheimbericht des langjährigen
serbischen Innenministers Ilija Garašanin (načertanije) über großserbische
Expansionspläne (inklusive der Kroaten in Dalmatien als „Serben katholischer
Glaubensrichtung") war noch geheim, die nationalistisch gefärbte Aufarbeitung
der Geschichte war noch in ihren Anfängen, der sprachlich – kulturelle
Aufholprozess sowohl bei Kroaten, als auch bei Serben noch im Anfangsstadium.
Vuk führt noch den serbischen / kroatischen „Bruder" im Mund – mehr als 80 Jahre
später sind zwar die „Brüder" de jure in einem gemeinsamen Königreich vereint,
de facto aber weiter voneinander entfernt als Mitte des 19. Jahrhunderts.
Preradović läßt dann den „Vuk" – historisch exakt – wesentliche Begebenheiten
aus seinem Leben erzählen. Die Anfeindungen „durch die Popen" wegen seiner
Reform der Kirchensprache, aus der er „einige tote Buchstaben" entfernen wollte.
Die Bezeichnung „Teufelssichel" für den Buchstaben „J", den er aus dem
Griechischen übernehmen wollte. Die Hintertreibung der Herausgabe seiner
Übersetzung des Neuen Testaments ins Serbische.
Seine Heirat mit einer Wienerin, 12 Kinder, von denen nur noch zwei am Leben
sind, seine vielen Reisen und damit im Zusammenhang die Verdächtigungen, ein
russischer Spion zu sein. In Wien der große Einfluss des slowenischen
Sprachwissenschaftlers Kopitar auf seinen weiteren Lebensweg, seine beiden
Besuche bei Goethe, die Kontakte mit Jakob Grimm und Humboldt.
Und Pero darf dann im Roman noch Überlegungen anstellen, wie wohl die
Geschichte ohne den vorzeitigen Tod von Zar Dušan weitergegangen wäre: das
„mächtige Slawenreich" hätte Byzanz überwältigt, ein halbes Jahrtausend
Türkenjoch wäre erspart geblieben, „die Größe des südslawischen Volkes" wäre
nicht für fast ein Jahrtausend dahin gewesen.
Beim Abschied fragt „Vuk" den Major, ob er einen Sohn habe und - wenn ja -
wie dieser heiße.
„Er heißt Dušan".
„Das hätte ich mir denken können! Zar Dušan! Gut, Bruder, gut. Gott
schütze dich, Bruder, du mein gesegneter Dichter!"
Diesem „Bruder – Diskurs" bei Paula von Preradović könnte man nun natürlich –
zugegeben im Wissen um die weitere geschichtliche Entwicklung - den erstmals 642
im Zusammenhang mit den muslimischen Eroberungen formulierten Satz (46) anfügen:
„Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein …"
Nur – für Paula von Preradović war beim Erscheinen des Romans der Untergang
des Habsburgerreiches bereits Realität (im Gegensatz zu Hermann Bahr im
folgenden Abschnitt): Dalmatien war Teil eines katholisch gelenkten kroatischen
Landes mit großer Autonomie, das Zusammenleben von Kroaten und Serben in
einem gemeinsamen Staat hatte zwar bislang nicht so funktioniert, wie es sich vor
allem die Kroaten erhofft hatten – aber immerhin: es gab diesen Staat und damit
weiterhin zumindest die Option auf ein brüderliches südslawisches Miteinander.
Verglichen mit den Erfahrungen aus den Jugendjahren mit der Sehnsucht der
Kroaten nach Freiheit und Selbstbestimmung war dies jedenfalls eine Entwicklung,
die bei dieser Dichterin – auch wenn sie auf historisch korrektes Schreiben Wert
legte – durchaus positive Emotionen hochkommen lassen durften.
Hermann B A H R
Hermann Bahr war ein österreichischer Schriftsteller, Dramatiker, Theater-
und Literaturkritiker.
Geboren am 19. Juli 1863 in Linz, nach der Matura in Salzburg Studium in Wien,
Kontakt zum Führer der Deutschnationalen, Georg von Schönerer; wegen
antisemitischer Reden Ausschluß von den Universitäten Wien, Graz und Czernowitz,
von 1884 bis 1894 in Paris und Berlin. In diesem Zusammenhang ist interessant,
was Bahr 1923 in seinem „Selbstbildnis" schreibt: er sei ein „intellektueller Herr von
Adabei" gewesen und habe „fast jede geistige Mode dieser Zeit mitgemacht, aber
vorher, nämlich als sie noch nicht Mode war. Wenn sie dann Mode wurde,
nicht mehr ..."
Um 1900 war Bahr als anerkannter Literatur- und Kunstkritiker in Wien
etabliert, wurde von Max Reinhard als Regisseur ans Deutsche Theater in Berlin
berufen, war 1918 erster Dramaturg am Wiener Burgtheater und später Lektor des
Fischer-Verlages. Von 1922 bis zu seinem Tod am 15. Jänner 1934 lebte Hermann
Bahr in München. Er verfaßte etwa 40 Theaterstücke, zehn Romane und mehrere
kritische Schriften.
Für das in dieser Arbeit zu untersuchende „Dalmatienbild" wird vor allem die
„Dalmatinische Reise" (1909) herangezogen, sowie kurze Passagen aus der
zeitgeschichtlichen Schrift „Schwarzgelb" (1917).
Hermann Bahrs definiert seine persönliche Annäherung an Dalmatien mit den
Schlußsätzen in der „Dalmatinischen Reise": aus diesem seinen Buch spreche
„zornige Liebe" und er wolle damit „helfen, Österreichs schönstes Land vor
seinen tückisch schleichenden Verderbern zu retten und ihm die Freiheit zu
bringen". (47).
Basis für das Buch bildete eine längere Reise im Winter 1909. Es war nicht
Hermann Bahrs erste Reise nach Dalmatien und seine Liebe zu diesem Land und
seinen Bewohnern war wohl ähnlich romantisch-verklärt wie bei Paula von
Preradović – allerdings war seine Vorstellung von der „Freiheit" eine völlig
andere: noch 1917 war Bahr davon überzeugt, daß Dalmatien diese Freiheit
innerhalb der Habsburgermonarchie erreichen würde und nicht in einem
süd-slawischen Zusammenschluß. Für Bahr waren die Dalmatiner in erster Linie
Österreicher – und zwar von der zentralen Bürokratie und Politik überaus
schlecht behandelte Österreicher. Es galt daher, sie - innerhalb der Monarchie –
von diesem Zustand zu „befreien".
Schwarzgelb
Diese einige Jahre nach der „Dalmatinischen Reise" während des Ersten
Weltkriegs erschienene zeitgeschichtliche Schrift zeigt den Rahmen auf, in dem
sich Bahrs „dalmatinische Vorstellungen" bewegten: auch die Slawen Österreichs
wären, wie seine Deutschen „österreichisch getauft, auch aus ihrer Seele kann
das österreichische Mal nicht mehr abgelöscht, aus ihrem Blut die geschichtliche
Gemeinschaft mit uns nicht mehr getilgt werden". (48). Auch das „deutsche
Wesen" würde verarmen, „wenn der Österreicher mit seiner südlich gebräunten,
slawisch erregten Sonderart verloren ginge!"
Entscheidend wäre, daß künftig keine Nation in der Monarchie über das Recht
auf das eigene Leben und die eigene Sprache erst mit anderen verhandeln müsse.
Dieses Recht dürfe nicht der Willkür anderer preisgegeben werden – vor allem
nicht der Willkür der schlechten Politiker und dem Zentralismus
„österreichischer Hofräte". Und ein Statthalter habe künftig ein Statthalter des
Königs zu sein und nicht – wie es zurzeit den Anschein habe – ein Statthalter
des Kaisers. (49). Ein Königreich müsse mehr sein als bloß irgendein
Departement Österreichs.
Daß Hermann Bahr noch 1917 eine mögliche jugoslawische Zukunft nicht
vorhersehen konnte oder wollte (immerhin gab es zu dieser Zeit bereits
Verhandlungen über einen gemeinsamen Staat zwischen Serben und Kroaten
in Korfu!), soll ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Was jedoch schon in der
„Dalmatinischen Reise" auffällt ist, daß der überwiegend korrekten Schilderung
der Lebensumstände „in diesem wunderbaren Land" und „von der tiefen Not, in
der sein edles Volk gefangen liegt", (50) kaum kritisches Hinterfragen
angeschlossen wird. Die Aussagen der Gesprächspartner werden einfach zur
Kenntnis genommen, die „tiefe Not" wird auf den bürokratischen Zentralismus
reduziert und die auch durch die politischen und gesellschaftlichen Akteure in
Dalmatien „hausgemachten Probleme" kommen nicht vor. Dennoch gibt uns
Hermann Bahr intensive zeitgeschichtliche Einblicke in das Dalmatien des
Jahres 1909 – nicht zuletzt, was die jahrelange Vernachlässigung durch
Österreich betrifft.
Dalmatinische Reise
Für seine Sicht der österreichischen Verwaltung in Dalmatien verwendet Bahr
zwei bildhafte Beispiele. Im ersten liegt knapp außerhalb von Split ein Schloß
„in Trümmern". Den alten, kranken Grafen sieht man nur in der Öffentlichkeit,
„wenn eine italienische Truppe kommt", danach zieht er sich zurück und legt sich
„wieder ins Bett, bis wieder eine Truppe kommt. Draußen aber zerfällt sein altes
Schloß. Er hat keine Freude daran. Doch gehört es ihm, er gibt es nicht her, so
kann es auch keinem anderen Freude machen. Das ist ein Gleichnis unserer
Verwaltung in diesem Lande. Sie hat keine Freude daran. Aber sie verhindert es,
anderen Freude zu machen".(51).
Das zweite Beispiel betrifft die berühmte Riva von Zadar (heute würde man
sagen die „skyline" vom Meer aus). Für Bahr ein Symbol der österreichischen
Verwaltung. Diese Riva habe den Zweck, die „alte Stadt Zara zu verstecken". Vor
der alten Stadt sei eine „österreichische Wand" aufgestellt, dahinter fängt „der
Orient an". Das symbolhafte für Bahr ist, daß die Verwaltung das Land so lassen
wolle, wie es ist, aber damit begonnen habe, „vorn eine österreichische Wand zu
ziehen, damit man es nicht sieht. Und das genügt den Dalmatinern nun nicht,
sondern sie verlangen, wirklich ein österreichisches Land zu werden. Das ist der
Streit der österreichischen Verwaltung mit dem dalmatinischen Volk."(52).
Daß dieses immer wieder erscheinende „österreichische Dalmatien-Bild" bei
Bahr zumindest begründbar ist, zeigt sich am Vergleich seiner eigenen
Familiengeschichte mit der von ihm geschilderten Familiengeschichte der
bekannten Familie Tartaglia aus Split. In einem „Salon" bei Salona hatte Bahr
mit Dr. Ivo Tartaglia („ein fanatischer Anwalt der kroatischen
Demokraten") (53) diskutiert, über „d’Annunzio, Klimt, die Duse, Masaryk,
den Trialismus ...".
Die Tartaglias waren, so Bahr, einst in Bosnien „auf einem Kastell da droben
... Kroaten. Da haben sie mit den Türken gerauft". Dafür wurden sie in den
venezianischen Adelsstand erhoben und waren „plötzlich Italiener". Bis dann Ivo
eines Tages in Prag wieder entdeckte, „daß sie Kroaten sind". Die Bahrs kamen
vor 200 Jahren vom Rhein nach Schlesien „mit dem ängstlichen Gemüt
gehorsamer Staatsdiener" und er selbst müsse nun mit dem „eingeborenen
Trotz des unbändigen Oberösterreichers" versuchen, alle seine Vorväter in sich
zu vereinigen – genau dies wäre auch „das Problem des heutigen Tartaglia". Der
Österreicher könne nicht so leicht wie anderswo das Erbe der Väter antreten,
denn in ihm „rufen hundert Stimmen der Vergangenheit, der Streit der Väter ist
noch nicht ausgetragen ..."(54).
In Dubrovnik trifft Bahr mit dem Landtagsabgeordneten Dr. Stefan Knezevič
zusammen, ein „unendlich feiner stiller Mensch mit wunderschönen zärtlichen
Augen", die „große Vergangenheit" hinter sich, „die trostlose Gegenwart
ängstigt" ihn. Die Dalmatiner brauchen Straßen, Bahnen, Schulen. Dies aber
„will man ihnen erst gewähren, bis sie bewiesen haben werden, daß sie
Patrioten sind. Inzwischen aber werden sie ... längst verhungert sein".(55).
Daß man in Wien zur Zeit der Annexionskrise und danach Angst vor „serbischen
Verschwörungen" hatte und mit der Politik des „divide et impera" sehr wohl
dalmatinisch-österreichischen Patriotismus als Gegenleistung für „die Hebung
des Landes" einforderte, ist historisch belegt, ebenso die hohe Zahl an
Auswanderern aus wirtschaftlichen Gründen. Dennoch hätte uns Hermann Bahr
bei entsprechend kritischem Nachfragen bei seinen Gesprächspartnern ein
objektiveres Dalmatienbild vermitteln können. Mein Eindruck ist, daß er das gar
nicht wollte, daß er mit seinem Buch bewußt aufrütteln wollte und deshalb auch
kleine Ungenauigkeiten in Kauf nahm.
Etwa beim Thema kroatisch-serbische Koalition in seinem Bericht über das
Gespräch mit dem Apotheker Matej Sarič aus Dubrovnik.(56).
Der wäre vor einigen Jahren noch „leidenschaftlicher Serbe" gewesen, heute
gehöre er „zur serbokroatischen Koalition". Der Unterschied zwischen Serben
und Kroaten scheine erloschen, heute könne man „überall in Dalmatien gefahrlos
sagen, daß Serben und Kroaten bloß zwei verschiedene Namen für dieselbe
Nation sind". Merkwürdig wäre nur, „daß sie selbst, miteinander und
ineinander lebend, dies so lange verkennen konnten". Merkwürdig wäre übrigens
auch, daß man „fast immer zuletzt auf einen Schüler Masaryks stößt", der – aus
Prag heimgekehrt - die Versöhnung zu verkündigen begann.
Dass die KSK (Kroatisch-Serbische-Koalition) schon im Jahr vor dieser Reise
von Hermann Bahr in Dalmatien gescheitert war (57), erfahren wir bei Bahr nicht.
Er berichtet allerdings von einem „braven kroatischen Notar", der über die
Gleichsetzung von Rasse und Nation „ganz entsetzt" war und gemeint hatte:
„die Kroaten sind schwarz-gelb, die Serben aber ungarisch gesinnt!" (Was
möglicherweise wohl für Kroatien zutreffen mochte, keinesfalls aber für
Dalmatien). Ihm selbst, so schreibt Bahr, wäre dieser Unterschied jedenfalls
nicht ausreichend, „um zwei Nationen zu statuieren".
In einem Kapitel über das Kolonat - System in der Umgebung von Split, in dem
die Rechte des Kolonen („der jeden Tag davongejagt werden kann" – was in dieser
Form nicht stimmt) teilweise unterspielt werden, kommen Bahr erstmals Zweifel:
„Wenn nun ein dalmatinischer Kossuth aufstünde?" Austriacus insapiens, der
„strebsame Mensch der Verwaltung" werde das wohl zu verhindern wissen. Er lasse
keine Sparkassen ins Land und verhindere – bei neunzig Prozent Analphabeten -
neue Schulen, weil „mit den Dalmatinern ist nichts zu machen, sie sind
indolent". Würden sie erst Geld und Bildung haben, gäbe es die Revolution. Nur –
so gibt Bahr der Statthalterei zu bedenken: nach Goethe wäre eine Revolution nie
die Schuld des Volkes, sondern der Regierung.
In Split besucht Hermann Bahr den „Schliemann von Salona", Frane Bulić. „Ein
freundlicher alter Herr, den die Gicht plagt ... und man spürt, daß er ein
Besessener ist. Diokletian und Salona, das ist seine Welt; der Rest macht ihn
ängstlich und verwirrt". (58).
Der anerkannte Archäologe leitete die Ausgrabungen der römischen Stadt Salona
und war im Frühjahr 1907 bei der ersten allgemeinen Reichsratswahl nach massiven
Interventionen von Statthalter Nardelli – und gegen seinen erklärten Willen -
als „überparteilicher Kandidat" der Kroatischen Partei im Wahlkreis Split
aufgestellt worden, um die Wahl des regierungskritischen Chefs der
Demokratischen Volkstümlichen Fortschrittspartei, Josip Smodlaka, zu
verhindern. Bulić wurde tatsächlich in der Stichwahl im 2. Wahlgang mit wenigen
Stimmen Vorsprung vor Smodlaka gewählt. (59).
Bei Hermann Bahr finden wir nun folgende - etwas eigenwillige - Darstellung:
„Smodlaka war der Kandidat, der Bezirkshauptmann aber erklärte, Bulić sei der
Kandidat, was Bulić, höchst erschreckt, eifrig bestritt. Die Wähler erklärten
nach der Wahl, sie hätten Smodlaka gewählt. Der Bezirkshauptmann aber erklärte,
sie hätten Bulić gewählt. In Wien hielt man sich an das, was der
Bezirkshauptmann erklärte. In Wien glaubt man heute noch, Bulić sei der
Abgeordnete von Spalato. Bulić selbst aber glaubt es nicht ... er übt sein
Mandat nicht aus. Die ganze Sache ist sehr österreichisch ... auch in Galizien
gibt es das ja, und nun muß man wissen, daß, was Wahlen betrifft, dalmatinisch
noch der Komparativ von galizisch ist".
Korrekt ist, daß Bulić im Herbst 1909 sein Mandat im Reichsrat angenommen und
im Winter 1910 wieder niedergelegt hat. In der Nachwahl wurde dann Smodlaka
gewählt und kam im Herbst 1910 in den Reichsrat.
Im Gespräch mit Hermann Bahr schildert Bulić nun seinen Leidensweg als
Konservator des Diokletianpalastes. Er wollte den Palast als Staatseigentum
anmelden, um ihn vor „barbarischen Eingriffen" zu sichern. Statt ihm dafür einen
Orden zu geben, bekam er „eine Nase". Im Finanzministerium in Wien meinte man,
dafür habe man kein Geld.
Bahr: Der alte Herr springt auf, „nimmt mich an den Schultern und wiederholt,
mit seiner schweren, zornigen Stimme, ratlos: Kein Geld, für den Palast des
Diokletian kein Geld!" Bahr vermutet, daß „die Nase" zwar rechtmäßig fundiert,
für den „braven Bulić aber, wie Gott ihn nun einmal geschaffen hat" völlig
unbegreiflich war.
Mit Salona gäbe es noch größere Probleme, der Bau eines Museum wäre
unabdingbar. Nach langen Verhandlungen habe Wien die Zusage für die Baukosten
gegeben, unter der Bedingung, daß Split den Bauplatz zur Verfügung stelle (was
man in Wien nicht glaubte). Im Spliter Stadtrat herrschte zunächst Ablehnung,
denn die Regierung „habe noch nie gehalten, was sie versprochen hat". Bulić
konnte den Stadtrat umstimmen: „Ich habe das Wort der Regierung ... ich kann
euch schwören, daß, wenn ihr den Grund gebt, die Regierung das Geld geben
wird, und wer ist unter euch, der an meinem Eide zweifelt?" - Und mit erhobener
Hand erklärt er Bahr: sie gaben mir „den Grund, aber die Regierung gab das Geld
nicht, jetzt lachen sie mich aus ...".
In Wien sei man, so berichtet Bahr, über diese Darstellung empört.
Selbstverständlich werde das Geld gegeben, es brauche aber seine Zeit.
Inzwischen (Bulić spricht von etwa fünf Jahren) sei der Arbeitslohn um 40
Prozent gestiegen, das Geld würde jetzt für den Bau nicht mehr reichen. Mehr
Geld würde die Regierung aber sicher nicht geben und „dann noch sagen, daß
man eben wieder einmal sieht, wie mit diesen Dalmatinern nichts zu machen ist,
und das ausgegrabene Salona bleibt weiter in Kisten verpackt ..."
Eine wohl für den Umgang der Wiener Zentrale mit dalmatinischen Fragen
typische und zutreffende Schilderung von Hermann Bahr (die durch zahlreiche von
den dalmatinischen Abgeordneten im Wiener Reichsrat vorgebrachte Beispiele zu
ergänzen wäre). Allerdings sollte man in diesem Zusammenhang bedenken, daß
durch die Jahrzehnte lange Vernachlässigung des Landes durch die Wiener
Regierung ein Nachholbedarf entstanden war, der finanziell in wenigen Jahren
nicht aufzuholen war. Das bedeutet, daß zum Beispiel Bulić keineswegs der
Einzige war, der permanent in Wien um Geld vorstellig wurde und daher etwa im
Finanzministerium Prioritäten gesetzt werden mußten. Mit dem durchaus
vorhandenen Unwillen und der schwerfälligen Bürokratie machte es „Wien" den
dalmatinischen Bittstellern aber zweifellos zusätzlich noch unnötig schwer.
Ein zentrales, zeitgeschichtlich überaus interessantes Kapitel bildet der
Besuch von Hermann Bahr bei Dr. Josip Smodlaka. Interessant ist schon das
vorgezeichnete Bild, mit dem Bahr zu diesem Treffen geht: wie der heilige
Biagio, der Stadtheilige, in Dubrovnik in jeder Nische zu finden sei und sich
ihm jeder anvertraue, so stehe Smodlaka „jetzt auch überall in
Dalmatien". (60).
Immer wenn man mit den Menschen über ihre Nöte, Wünsche und Hoffnungen
zu sprechen beginne, werde plötzlich sein Name laut. „Wir werden Wien nicht
brauchen, nein, wir haben ja jetzt den Smodlaka". Für Bahr entsteht der Eindruck, als
wäre „plötzlich ein großes schweres altes Schwert gezückt, durch seinen bloßen
Namen". Er genieße Vertrauen in allen Bevölkerungsschichten und verbreite
„allgemeine Landesfreude", vor allem bei der Jugend. (Offen bleibt, ob dieses
Vertrauen auch über Parteigrenzen hinausging: schließlich war Smodlaka ja Führer
einer eigenen Partei; erst 1909 ließen die Auseinandersetzungen nach und
Smodlaka wurde dann 1910 nach einer Übereinkunft mit der Kroatischen Partei und
ohne Widerstand des Statthalters als Bulić -Nachfolger in den Reichsrat gewählt.
Was übrigens bei Bahr überhaupt nicht vorkommt ist Smodlakas radikaler
Antiklerikalismus – für Statthalter Nardelli 1907 ein wesentlicher Grund für den
Kampf gegen Smodlaka).
In Split fragt Bahr einen jungen Mann mach dem Weg zu Smodlakas Haus. Dieser
führt ihn und andere schließen sich an, ein ganzer Zug von „schlanken, hitzigen
Burschen neben mir mit ihren federnden, drängenden Tritten. Der bloße Name
Smodlaka hat mir eine ganze Garde von Jugend gebracht. Und seltsam kommt’s
mir vor, wie wir so schreiten, so gar nichts Slawisches an ihnen zu finden. Wie
junge, frohe, deutsche Turner sind sie".
Im vorgefaßten Bild sieht Bahr Smodlaka mit wehendem Bart, mit „flatternden
Gebärden, mit schnaubender Stimme. So einen kleinen kroatischen Gambetta halt".
Die reale Erscheinung des Advokaten und Landtagsabgeordneten überrascht ihn,
er kann gar nicht glauben, daß „dieser Wikinger, dieser Ibsen – Mensch hier vor
mir, Smodlaka sein soll, der Heilige von Dalmatien!"
Bahr reibt sich die Augen und fragt: „Ja, bin ich denn in Schweden?"
Smodlaka lacht. „Es ist das kurze helle Lachen eines tätigen Germanen. Und
dann sagt er: Der Vergleich wäre gar nicht übel ... noch lieber aber Norwegen.
Das ist ungefähr, dahin will unsere Zukunft. Nach seiner solchen langsamen,
bäuerlich behutsamen und bäuerisch beharrlichen, bedächtig zuschreitenden
Entwicklung, von unseren Bedürfnissen aus, unseren Möglichkeiten gemäß,
verlangen wir."
Bahr zeichnet (überzeichnet ?) dann das Bild eines Menschen, stark bäuerisch
im Denken. Kein Phantast, sondern einer, der Hand anlegt, ein Wegmacher, der
nicht auf ein Programm, sondern auf die Not hört, der Ausholzen und Luft
haben will. Es „sitzt eine Art Roosevelt vor mir ..."
Smodlaka hat aber doch eine Art Programm, das er nun Hermann Bahr erläutert:
„...ganz Dalmatien ist bäuerisch. Aber die Kraft dieser Bauern liegt gebunden.
Und ... diese gebundene Kraft wollen wir entbinden, damit der Bauer werde, was
er sein kann. Das ist unser Hochverrat. Wir haben neunzig Prozent Analphabeten,
und wenn wir Schulen verlangen, nennt man das Hochverrat. Wenn wir Wanderlehrer
zu den Bauern schicken, weil diese gern lesen und schreiben lernen möchten,
kommt der Gendarm über uns, und es ist Hochverrat. Wenn wir Sparkassen gründen,
ist es Hochverrat. Wenn wir gegen die Kolonenwirtschaft sind, die jeden modernen
Betrieb unmöglich macht, ist es Hochverrat. Wenn unsere jungen Dalmatiner nach
Amerika gehen, dort arbeiten und ein höheres Leben kennen lernen, das sie dann
mit nach Hause bringen wollen, ist es Hochverrat.
Diesen Hochverrat werden wir so lange fortsetzen, bis wir ihn durchgesetzt
haben werden. Wir haben keinen besonderen Wunsch, dabei Gewalt anzuwenden.
Sollte man dies aber durchaus wünschen, so ist es Bauernart, auch damit dienen
zu können".
Zumindest den Hinweis auf das kurz zuvor von Schweden abgespaltene Norwegen
und vor allem diesen letzten Satz hätte Bahr meiner Ansicht nach hinterfragen
müssen, zumal diese Inhalte mit Bahrs Zukunftsvision vom „österreichischen
Dalmatiner" nicht leicht in Einklang zu bringen sind.
Smodlaka schließt: „Auf unsere Art wollen wir unser Land bestellen. Das hält
man in Wien für gefährlich. Uns aber verhungern zu lassen, wird vielleicht noch
gefährlicher sein. Jedenfalls zeigen wir dazu keine Lust. Und das findet man
unpatriotisch".
Undemagogisch waren die Smodlaka - Äußerungen zweifellos auch nicht. Bahr
jedenfalls war beeindruckt (er konnte nicht wissen, daß Smodlaka es sein würde,
der im November 1918 die serbischen Soldaten in seiner berühmten Rede in Split
als Befreier willkommen heißen würde).
Und Bahr offenbart dem „dalmatinischen Heiligen" sein persönliches
Dalmatienbild: Er sagt ihm, „welchen seltsam wehmütigen Zauber" das
dalmatinische Volk für ihn habe. „Ästhetisch bin ich in den dumpfen Gehorsam und
die fast tierische Treue, die es im Blute hat, ganz verliebt. Politisch freilich ...?"
„Nun ja" schließt Smodlaka das Gespräch in seiner stillen Art. „Aber vergessen
Sie nicht, daß wir die Regierung haben, das ist unser großes Glück, die wird uns
den Gehorsam schon noch austreiben".
Auf der Heimfahrt nach Wien zieht Bahr ein realistisches politisches Resümee:
Deutschland habe Österreich hinausgeworfen, es müsse daher auf den Balkan. Es
könne aber nicht auf den Balkan, wenn es seiner Südslawen nicht sicher sei. Und
es könne sich die Slawen auf dem Balkan nicht zu Freunden machen, wenn es der
Feind ihrer Brüder, seiner eigenen Slawen bleibt. Die Slawen auf dem Balkan
würden Österreich nur dann vertrauen, wenn unsere Slawen in Dalmatien und
Kroatien ihnen Lust dazu machten. So lange wir hier aber wie in Feindesland
hausen, wird dies die drüben nicht verlocken sich uns anzuschließen ....
Anschließend verfällt Bahr dann aber noch in ein utopisches Wunschbild: daß
vielleicht im nächsten Herbst ... „diese Verwaltung schon weggejagt und hier ein
freies Volk sein wird, an Österreich gläubig, durch Österreich stark, für
Österreich bereit, da die Geschichte ja noch immer gescheiter war als wir".(61).
Epilog 1
Hermann Bahr (Neue Freie Presse) vs. Baron Chlumecky (Österreichische
Rundschau)
Bahr hatte noch vor Erscheinen des Buches einige seiner Eindrücke in einem
Leitartikel in der „Neuen Freien Presse" vom 2. März 1909 veröffentlicht (62).
Zunächst betonte er darin, daß Dalmatien auf Einkünfte aus dem Fremdenverkehr
angewiesen, dieser aber durch den „Kriegslärm" eingebrochen sei. Daher laute
die Botschaft der Dalmatiner, „daß wir hier in aller Stille leben, wie sonst; daß
weit und breit der schönste Friede herrscht; das verdammte Kriegsgeschrei
ruiniert uns noch alles!"
Bahr bestätigte das in seinem Artikel: es sei alles „friedlich wie sonst", um
dann - pointiert – fortzufahren: „aber die Polizei macht das Land unsicher ...
die Verwaltung macht Dalmatien unsicher". Österreich halte das Land „besetzt",
dem Dalmatiner sei alles, was von der Regierung kommt, „verdächtig" und der
Regierung sei alles „verdächtig, was der Dalmatiner will". Die Regierung meine,
alle Verbesserungen müßten „von ihr aus geschehen, nach ihrer Wohlmeinung
und als eine Belohnung sozusagen, die sich die Dalmatiner erst durch artige
Sitten zu verdienen hätten". Aber die Dalmatiner wollten nicht wie „unartige
Buben ... von Wien erzogen werden". Sie beklagten sich über das Mißtrauen,
das ihnen entgegengebracht würde: „... die mandelförmigen, samtenen Augen
glänzen ihnen, und, kindisch-treuherzig, beteuern sie, es sei wirklich nicht wahr,
daß sie Hochverräter sind, nur ihr schönes Land möchten sie für sich haben ..."
Der junge Baron Chlumecky, Mitherausgeber der „Österreichischen Rundschau",
antwortete in seinem Organ am 15. März 1909 mit Ironie und Kritik. (63).
Es sollen deshalb einige Passagen aus seinem Artikel wiedergegeben werden,
weil damit jenes „andere Dalmatien – Bild" offenbar wird, das es zu dieser Zeit
in Wien – auch – gegeben hat.
„Die böse, vom Polizeigeist Metternichs durchdrungene Verwaltung", so meinte
Chlumecky ironisch am Beginn seines Beitrages, um dann aber das Wiener
Mißtrauen zu artikulieren „unterfängt sich, am Vorabend eines Krieges in einem,
von Spionen und Feinden umlauerten Lande den Fremdenverkehr ein bißchen zu
überwachen". Gewiß mache die Polizei das Land unsicher, aber nur für jene,
„welche still und friedlich ihre hochverräterischen Pläne mit Cettinje und
Belgrad weiterspinnen wollen". Hermann Bahr hätte sich auf einseitige Quellen
gestützt. So wäre etwa „Ragusa seit Jahren der Brennpunkt der großserbischen
Bewegung", wobei diese Ideen vor allem von der Intelligenz der Stadt getragen
würden.
Was Dalmatiens wirtschaftliche Lage betreffe, so habe Österreich tatsächlich
seit Jahren schwer gesündigt. Aber deshalb, weil man immer auf Initiativen aus
der Bevölkerung gewartet habe. Aber dem Dalmatiner falle sachliche, ruhige
Arbeit „besonders schwer". Durch seine politischen und nationalen Kämpfe,
„welche ihn mehr fesseln als jedwede andere Betätigung", wären die Kräfte der
Dalmatiner „so sehr gebunden, daß sie auf keinem anderen Gebiete mehr zu
voller Entfaltung gelangen können". Daher erwarte man in Dalmatien, daß alle
Impulse zur wirtschaftlichen Hebung des Landes „von der Regierung" kämen.
Jahrelang habe man vergeblich auf die Dalmatiner gewartet, jetzt, „wo die
Regierung die wirtschaftliche Wiedergeburt des Landes selbst herbeiführen will,
wehren sich die Dalmatiner gegen die fremde Einmischung". So lange es kein
besseres Konzept gäbe, so Chlumecky zum Schluß, hielten es viel für das beste,
„Dalmatien wie eine Kolonie zu verwalten, in die man erst alles von außen
hineintragen muß. Alles: Kapital, Menschen, Impulse und Ideen".
Die Antwort von Hermann Bahr wurde in der „Österreichischen Rundschau" nicht
abgedruckt. Er hatte darin Chlumecky empfohlen, zu den von ihm am Ende seines
Artikels empfohlenen Importen nach Dalmatien auch noch „ein bißchen
Gerechtigkeit" hinzuzufügen. Und er faßte seine Sicht der Dinge nochmals
zusammen: „ein armes, stilles, treues, aufrichtiges und gehorsames Volk, das sich
in seiner Not gar nichts Besseres wünschen möchte, als gut österreichisch sein zu
können, wird durch Unverstand, Willkür und Rechtlosigkeit gepeinigt, als sollte ihm
gewaltsam sein österreichisches Gefühl ausgetrieben und es vorsätzlich zum
Hochverrat gezwungen werden".
Ich denke, daß die Gegenüberstellung des zweifellos zu wenig kritischen und
überhöhten „Dalmatien –Bildes" von Hermann Bahr mit den zumindest ebenso
unkritischen und realitätsfernen Ansichten von Baron Chlumecky das Dalmatien –
Dilemma des Jahres 1909 sehr gut illustriert: irgendwo zwischen diesen beiden
(Extrem) – Positionen war wohl die Realität angesiedelt, der aber die Exponenten
der unterschiedlichen Standpunkte eben nicht gerecht werden konnten. Und für
eine „gemäßigte Mitte" war zu dieser Zeit die politische Kultur wohl noch nicht
weit genug entwickelt.
Epilog 2
Briefwechsel Hermann Bahr – Statthalter Niko Nardelli
Im Verlauf seiner Reise war Bahr mehrmals mit Beschwerden konfrontiert worden,
dass die Behörden in Dalmatien unter dem Titel „allgemeine Entwaffnung"
bei den Bauern auch altertümliche Waffen – Gewehre, Pistolen und Handsäbel –
konfiszierten, teilweise kostbare Stücke, ganz abgesehen von ihrem Andenkenwert
für die Familien.
Hermann Bahr schrieb dazu am 9. März 1909 an Statthalter Niko Nardelli einen
Brief (64) mit der Anfrage, ob ihm bekannt sei, dass eine derartige Entwaffnung vor
einigen Monaten in der Umgebung von Split stattgefunden habe und den Bauern
dabei unbrauchbare historische Geräte, die im Sinne des Gesetzes keine Waffen
sind „einfach weggenommen" wurden. Er bat den Statthalter (für den er „persönlich,
keineswegs für ihre Organe, die allergrößte Hochachtung hege") um Auskunft, wo
„diese Waffen" aufbewahrt würden, weil nach Auskunft seiner Vertrauensmänner
jetzt „bei vielen Beamten und Offizieren merkwürdig reiche Sammlungen kostbarer
alter dalmatinischer Waffen" zu finden wären.
Nardelli antwortete am 30. März: da ihm „Gerüchte über das Verschwinden
amtlich konfiszierter Waffen wenig glaubwürdig vorkamen", habe er entsprechende
Erhebungen anstellen lassen. Danach wäre die letzte Konfiskation im Bezirk Split
1898 erfolgt und alle Waffen wären „in Verwahrung der Bezirkshauptmannschaft.
Die Euer Hochwohlgeboren erteilten Informationen über ein Abhandenkommen
einzelner derselben muss ich demnach als ganz unrichtig bezeichnen".
Bahr musste in der Zwischenzeit erkennen, dass er ein Dorf im politischen Bezirk
Sinj irrtümlich im Bezirk Split angesiedelt hatte. Er schrieb nochmals an
Nardelli, dass zu Weihnachten 1908 im Dorf Otok im Bezirk Sinj mehrere kostbare,
alte Nationalwaffen konfisziert worden wären. Unter anderen habe man dem
Dorfvorsteher zwei Gewehre und ein „mit Silber beschlagenes und mit sehr
kostbaren Steinen besetztes Handjar-Messer genommen". Es stehe somit
Behauptung gegen Behauptung.
Nardelli antwortete auf diesen zweiten Brief nicht.
Bahr zitiert allerdings zu dieser Angelegenheit einen Bericht der Spliter
Zeitung „Sloboda" vom 18. Juni 1909.(65).
In dem Artikel ist zu lesen, dass alte – konfiszierte – dalmatinische Waffen
in Wien verkauft oder unter höheren Beamten verteilt würden. So hätte ein Tenor
bei einer Opernvorstellung einen herrlichen alten Säbel aus der Gegend von Kotor
getragen und in einem anschließenden Gespräch erklärt, dass er „den Säbel im
Ministerium des Inneren erworben" habe. Die Zeitung berichtete dann vom
Briefwechsel Bahr – Nardelli und vertrat die Ansicht, dass die Statthalterei
zwar genau über den Sachverhalt Bescheid gewusst, sich bei der formalen
Antwort „jedoch den Irrtum Bahrs zu Nutzen" gemacht hätte.
Der Inhalt des zweiten – nicht beantworteten - Briefes zeigte jedoch Wirkung:
laut „Sloboda" wollte Bahr den „systemisierten Skandal der Plünderung des
Nationalgutes in die Europäische Presse bringen … Die Drohung des
deutschen Herrn Bahr flößte doch den Herren in Zadar und Wien Angst ein".
„Sloboda" berichtete, dass die Statthalterei in einem Erlass angeordnet
hatte, dem Dorfvorsteher die „abgenommenen Waffen sogleich zurückzuerstatten".
Und am 27. Mai 1909 wurde in einem Zirkular der Statthalterei angeordnet, „dass
von nun an bei der Entwaffnung dalmatinischer Ortschaften auf die alten Waffen
genau zu achten ist und solche weder gepfändet noch abgenommen werden dürfen".
Dass die Statthalterei seine „höfliche Anfrage" als „Drohung" empfunden haben
sollte, wurde von Bahr mit Verwunderung quittiert und mit dem Schlusssatz, den
ich zu Beginn bereits zitiert habe: „am Ende wird man dieses ganze Buch auch als
Drohung empfinden, während es doch nur zornige Liebe ist, die hier spricht …"
Fussnoten
1 Paula von Preradović, Gesammelte Werke (Wien 1967). S. 12.
2 Ernst Molden, Skizzen zu einem Porträt" (Wien 1951). Zit. in
Preradović, Gesammelte Werke, S. 7: „Die Dichterin beider Österreich",
wobei das „Einst" durch Istrien, Kroatien und Dalmatien repräsentiert ist.
3 Vgl. dazu Preradović, Gesammelte Werke, S. 139.
4 Paula von Preradović, Dalmatinische Sonette (Berlin, Wien 1933).
5 Preradović, Gesammelte Werke, S. 139
6 Preradović, Dalmatinische Sonette, S. 23 -24.
7 Paula von Preradović, Königslegende (Innsbruck 1950).
8 Preradović, Gesammelte Werke, S. 851. Dass „Wikipedia" noch 60
Jahre danach diesen „Zweifel" bestätigt, soll in diesem Zusammenhang kritisch
angemerkt werden: In der deutschen Fassung zu König Krešimir wird behauptet,
dass die
Normannen unter Amico im November 1075 den kroatischen König gefangen
hätten und „um wieder freigelassen zu werden, musste Krešimir (!!!) die Städte
Zadar, Split und Trogir an die Normannen abtreten".
In der englischen Fassung wurden die Normannen sogar von den Byzantinern
(!!!) geschickt.
9 Ivo Pilar, Eine Geschichte Kroatiens, Serbiens und Bosniens. Bearbeitet von
Michael Ackermann (3. Aufl. Bad Kissingen 1995). S. 35.
10 Vgl. Ferdo Šišić, Geschichte der Kroaten (Zagreb 1917). S. 265: Bei der Synode
von Split im März 1060 wurde unter anderen die slawische Liturgie verboten, jedoch
von der Mehrheit des kroatischen Volkes und der slawischen Geistlichkeit geheim
ewitergepflegt.
11 Vgl. Vjekoslav Klaić, Povjest Hrvata (Geschichte der Kroaten). I. Band
(Zagreb 1899). S. 112 – 119.
12 Giovanni Cattalinich, Storia della Dalmazia (Zara 1834). In: The Slavic Collection, Harvard
College Library (1903). Internet – Gesamt - Textausgabe http://books.google.at/
13 Pilar, Geschichte. S. 37.
14 Dušan von Preradović, Eine normannische Landung in Dalmatien (1075). In:
Mitteilungen aus dem Gebiete des Seewesens (Pola, Wien 1908). Band XXXVI,
Seite 875 f. Zit. In: Preradović, Gesammelte Werke, S. 846.
15 Šišić, Geschichte. S. 277 berichtet von einer Urkunde aus dem November 1075
in der es heißt: „Graf Amikus habe den König von Kroatien – nämlich Slavac
– gefangen genommen".
16 Cattalinich, storia. S. 248: „chiamati dagli stessi abitanti di queste provincie",
wobei er sich dabei auf einen Bericht des „Venezianers Dandolo" bezieht.
17 Pilar, Geschichte. S. 37.
18 Dušan von Preradović, Landung. In Preradović, Gesammelte Werke S. 847. Dušan
von Preradović berichtet von einem Brief vom 25.1.1075, in dem Papst Gregor VII. dem
dänischen König Sven Estridsen vorschlägt, einen dänischen Prinzen als König in die
„reiche, von Ketzern bewohnte Landschaft am Meere" einzusetzen.
19 Šišić, Geschichte. S. 276.
20 Preradović, Königslegende S. 18.
21 Ds. S. 76-78.
22 Ds. S. 40 - 41.
23 Šišić, Geschichte. S. 320, zitiert Rački, wonach Stjepan vermutlich nur als
Laienbruder im Kloster war und keine Mönchsgelübde abgelegt habe.
24 Preradović, Königslegende. S. 55. Hier zeigt sich der Roman offenbar
historisch genauer als etwa Cattalanich, storia, S.249: dort steht, dass
Zvonimir schon elf Tage nach der Gefangennahme von Slavić zum König gewählt
wurde. Im Roman ist Slavatz dagegen schon viele Wochen unterwegs, bis es zu
diesem „Treffen" in Split kommt. Die eigentliche Königswahl erfolgte auf einer -
in eine Volksversammlung aufgegangenen - Synode in Split in Anwesenheit
zweier päpstlicher Legaten im September, die Krönung und Belehnung durch
den Papst am 8. oder 9. Oktober 1076 (Šišic, Geschichte, S. 284 – 285).
25 Ds. S. 59.
26 Ds. S. 113.
27 Ds. S. 115.
28 Petar Preradović, in Paula von Preradović, Gesammelte Werke, S. 128. Das
Gedicht wurde von Paula von Preradović 1911 aus dem „Serbokroatischen" ins
Deutsche übersetzt.
29 Preradović, Gesammelte Werke. S. 125 – 127. Sie selbst bezeichnet in einer
Fußnote den Inhalt als „freie Erfindung" – allerdings lässt sie die Vila die wesentlichen
historischen Ereignisse bis zur Schlacht am Amselfeld 1389 korrekt erzählen.
30 Preradović, Dalmatinische Sonette. S. 29.
31 Anm.: die Namen angesehener Familien aus Ragusa
32 Anm.: die Hauptstraße in Dubrovnik
33 Paula von Preradović, Pave und Pero (12. Auflg. Wien 1987).
34 Ernst Molden, Skizzen. Zit. In Preradović, Gesammelte Werke, S. 742. In diesem
Zusammenhang wird verständlich, warum eine 3. Auflage 1941 nicht erfolgte:
angesichts des Papiermangels wurde nur noch „staatspolitisch wichtiges
Schrifttum" bewilligt. Das konnte diesem Buch „trotz voller Würdigung seines
literarischen Wertes nicht zugebilligt werden". Dieser Bescheid des
Kulturreferenten Robert Ernst wird im Nachwort von Pave und Pero zitiert (S. 377).
35 Preradović, Pave und Pero. S. 25 – 28.
36 Anm.: Vraz (1810 – 1851) war gebürtiger Slowene, der jedoch kroatisch dichtete,
Volkslieder sammelte und die Einbeziehung seiner Heimat in das „Illyrische Königreich"
forderte. Siehe Preradović, Gesammelte Werke, S. 1117.
37 Dr. Aleksa Vankaš (1801 – 1884) war Arzt, Begründer der Ersten Kroatischen
Sparkasse und Stadtrat von Zagreb. Siehe Preradović, Gesammelte Werke. S. 1117.
38 Gaj wurde 1809 in Krapina (Komitat Varaţdin) geboren und starb 1872 in Zagreb.
39 Vgl. Helmut Rumpler, Österreichische Geschichte 1804 – 1914. Eine Chance für
Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie
(Wien 1997). S. 197 – 199.
40 Die „Zora dalmatinska" (Dalmatinische Morgenröte) wurde von 1844 bis 1849 in Zara
herausgegeben. Siehe „Register der Zeitungen und Zeitschriften" Österr. Akademie der
Wissenschaften, Internet: hw.oeaw.ac.at.
41 Vgl. Preradović, Gesammelte Werke. S. 1112.
42 Paula von Preradović, „Der Wanderer". In: Gesammelte Werke S.1069 – 1072.
Übertragung ins Deutsche von Neda Rukavina und Kurt Eigl.
43 Vuk Stefanović Karadţić, geb. 1787 in der Herzegowina, Autodidakt, Sammler serbischer
Volkslieder und Märchen. 1818 in Wien Veröffentlichung eines serbischen Wörterbuches.
Schöpfer der modernen serbischen Schriftsprache ( Volkssprache mit einfacher Orthographie
an Stelle des Kirchenslawischen). 1850 Teilnehmer am - allerdings nicht verbindlichen -
„Wiener Abkommen" (štokavisch-ijekavischer Dialekt als Grundlage einer gemeinsamen
serbo-kroatischen Sprache in lateinischer und in kyrillischer Schrift). 1864 in Wien gestorben.
44 Preradović, Pave und Pero. S. 78 – 79.
45 Ds. S. 83 – 96.
46 Google ........
47 Hermann Bahr, Dalmatinische Reise (Berlin 1909). S. 162.
48 Hermann Bahr, Schwarzgelb (Berlin 1917) S. 38-39.
49 Bahr, Schwarzgelb. S. 58 – 62.
50 Bahr, Reise. S. 82.
51 Ds. S. 107.
52 Ds. S. 34.
53 Ds. S. 94.
54 Ds. S. 95.
55 Ds. S. 67.
56 Ds. S. 69 – 70.
57 Günter Schödl, Kroatische Nationalpolitik und „Jugoslavenstvo" (München 1990).
58 Bahr, Reise. S. 118 – 122.
59 Vgl. Wolfgang Pav, Die dalmatinischen Abgeordneten im Österreichischen
Reichsrat nach der Wahlrechtsreform von 1907. Diplomarbeit Univ. Wien (2008).
60 Bahr, Reise. S. 110 – 117.
61 Bahr, Reise. S. 123.
62 Neue Freie Presse, Dienstag, 2.3. 1909. S 1-2.(Digitalisiert anno.onb.ac.at).
63 Zit. In Bahr, Reise. S.146 -151.
64 Bahr, Reise. Anhang S. 155 – 159.
65 Ds. 159 - 161.
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