Zur Geschichte der Konzentrationslager
Analyse 2004
Zum Buch von Karin Orth: „ Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager“
(mit Bezugnahme auf Martin Broszat :“ Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933- 1945“)
Broszat hat sein Werk 1964 veröffentlicht und es – 18 Jahre nach Eugen Kogon – als
mögliches Gerüst für eine umfassende Geschichte der Nationalsozialistischen
Konzentrationslager bezeichnet. 35 Jahre und mehr als 30 Grundsatzwerke später hat Karin
Orth dieses Gerüst zweifellos erweitert. Ähnlich im Aufbau, aber mit anderen
Schwerpunktsetzungen und neuen Fragestellungen.
Broszat hat die Zeit vor 1939 intensiv beleuchtet, weil „in ihr wesentliche Vorentscheidungen
fielen“, bei Orth kommt dieser Zeitabschnitt vergleichsweise kurz weg. Der Kern bei Broszat:
Die Beibehaltung der Konzentrationslager nach 1933/34 „ohne objektive Notwendigkeit“
bedeutete eine willentliche Prolongierung des Ausnahmezustandes (zur Durchsetzung totaler
Verfügungsgewalt). Damit wurden aus Schutzhaftlagern für Staatsfeinde „Stätten
massenhafter Zwangsarbeit, biologisch medizinischer Experimente und physischer
Eliminierung“.
In der Betrachtung der Konzentrationslager in den ersten Kriegsjahren folgt Orth im
Wesentlichen Broszat, vor allem was die organisatorischen Maßnahmen Himmlers und der SS
betrifft. Detaillierter dagegen bei Orth die Untersuchung einzelner Lager, der unterschiedlichen
Haftbedingungen und des Ausbaus der Zwangsarbeit. Weit über Broszat hinaus geht Karin
Orth bei der Schilderung der KZ-Entwicklung im letzten Kriegsjahr und vor allem der
Todesmärsche in den letzten Kriegsmonaten (die bei Broszat nur in einem einzigen Absatz
vorkommen).
Nachfolgend nun einige punktuelle Anmerkungen zum Buch von Karin Orth und einige der
dort aufgestellten Thesen:
Im ersten Teil („Vom politischen Schutzhaftlager zum Konzentrationslager“) zu diskutieren
ist meiner Ansicht nach der zentrale Satz von Orth(S 35,36): „An die Stelle der aufgelösten
frühen Lager trat ein neuer Lagertypus: d a s nationalsozialistische Konzentrationslager
(nochmals S 65). Erstens mit der Frage: Welche Lager waren vor dem nationalsozialistischen
KZ und zweitens mit der bei Johannes Tuchel („Konzentrationslager“) vorgenommenen
Differenzierung der sechs neuen großen Lager. Laut Tuchel hat der steigende Einfluss von
Oswald Pohl dazu geführt ( S 317), dass bei der Standortwahl von Flossenbürg und
Mauthausen zu den bis dahin geltenden Kriterien wie Abgeschiedenheit und gute
Transportmöglichkeiten nun 1938 als neues Kriterium auch die Ausbeutung der
Häftlingsarbeit hinzutritt. (zB. Steinbruchnähe).
Tuchel spricht daher davon, dass im Gegensatz zu Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau
mit der Errichtung der Lager Flossenbürg und Mauthausen, ebenso wie mit dem großen
Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eine „...neue und teilweise veränderte
Funktionszuweisung für die Lager...“( S 316) markiert werde. Während er hier also auch bei
den 1936 bis 1939 errichteten Konzentrationslagern differenziert, spricht Orth von e i n e m
n e u e n Lagertypus.
In einer Fußnote verweist Orth darauf, dass in einem Teil der Literatur die neuen Lager als
„Konzentrationslager der zweiten Generation“ bezeichnet werden. Ich möchte mich dieser
Definition anschließen: es ist zwar durchaus einleuchtend, mit dem ganz gezielten Neubau
von Konzentrationslagern, ihrer speziell geplanten architektonischen und funktionalen
Gestaltung und der damit ausgedrückten „unentrinnbaren Gewaltordnung“ (Ulrich Hartung)
einen quasi Startpunkt für die nationalsozialistischen Konzentrationslager zu setzen, führt
jedoch dazu, dass die dann verbleibenden, zuvor bestehenden Lager bestenfalls „politische
Schutzhaftlager“, aber eben keine nationalsozialistischen Konzentrationslager gewesen sein
dürften. (Vergl. dazu die 1946 in Österreich geführte Diskussion zwischen SPÖ und ÖVP, ob
Wöllersdorf ein Anhaltelager, Schutzhaftlager oder Konzentrationslager gewesen sei (Das
Kleine Volksblatt, 16.10.1946, Arbeiter-Zeitung 17.10.1946).
Dazu sind aber in diesen „Schutzhaftlagern“ schon ab 1933 zu viele Menschen von den
Nationalsozialisten „zu Tode gebracht worden“. (allein in Dachau 106 zwischen 1933 und
1937).
Nationalsozialistische Konzentrationslager der ersten und zweiten Generation werden dem
meiner Ansicht nach eher gerecht und implizieren wohl auch den Drang vor allem der SS zur
„Perfektionierung“, die ja schließlich dann in die Vernichtungslager gemündet hat.
In zweiten Abschnitt (KZ-System in der ersten Kriegshälfte) schildert Orth zunächst die
Entstehung und Entwicklung der einzelnen neuen Konzentrationslager, beschäftigt sich dann
mit der Veränderung in der Zusammensetzung der Häftlingsgruppen, vor allem nach
Nationalitäten und analysiert schließlich die Bedeutung der Häftlingsarbeit – einerseits,
was die Produktivität für die SS-Betriebe betrifft, andererseits was die
unterschiedlichen KZ-Einstufungen, die unterschiedliche Häftlingshierarchie und der
unterschiedliche Arbeitseinsatz für die Überlebenschancen der KZ-Häftlinge bedeutete.
Bei Broszat werden diese Themen zwar zum Teil intensiver behandelt, aber nicht so klar
strukturiert. Er geht von organisatorischen Veränderungen in der SS aus, arbeitet aber die sich
ändernde Häftlingszusammensetzung in das Kapitel „Neue Verhaftungswelle und erste
Exekutionen“ ein und befasst sich im Kapitel neue Lager zugleich auch mit der Verschärfung
der Schutzhaft und einer Neugestaltung der sogenannten Arbeitseinsatzes.
Drei Bereiche scheinen mir vergleichenswert:
1) der Versuch Himmlers, a l l e Konzentrationslager unbedingt in der Zuständigkeit der IKL zu
erhalten
2) der unterschiedliche Zugang von Orth und Broszat zum Thema „Arbeitseinsatz“ und
3) die verschiedene Gewichtung der Gründe, die für die Errichtung und den Ausbau des KZ
Auschwitz vorgebracht werden (hierzu auch Höß – „Kommandant in Auschwitz“).
1) Beiden Autoren scheint es wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass Himmler die
Konzentrationslager auf keinen Fall auch nur ansatzweise aus der Hand geben wollte.
Orth zitiert Himmler (KZ können nur mit meiner Genehmigung errichtet werden...-
Brief 16.12.39) und übernimmt auch den bei Broszat abgedruckten Runderlass von
Heydrich (26.2.40), aus dem hervorgeht, dass die Bezeichnung KZ nur auf ausdrückliche
Weisung des Reichsführers SS verwendet werden dürfe. Dazu kommt bei Broszat noch ein
Brief Himmlers (11.5.43) über die Anerkennung des KZ Salaspils bei Riga (2 Voraussetzungen:
1. es muss dem Chef des Hauptamtes Verwaltung und Wirtschaft unterstellt werden und
2. es muss einen „wirklich wichtigen Rüstungsbetrieb“ enthalten) – dies als Übergang zum
zweiten Vergleich – der Faktor Arbeitseinsatz wird in diesem Kapitel bei Broszat wesentlich
stärker in den Vordergrund gerückt.
2) Für Orth liegt der qualitativ eher minderwertige Arbeitseinsatzes der KZ-Häftlinge
(vor allem im Baustoffbereich) unter dem Primat „Erziehung, Strafe und Vernichtung“.
Sie legt dabei den Schwerpunkt deutlich auf die Überlebenschancen der Häftlinge bzw.
die unterschiedlichen Sterberaten. Für Broszat stehen wirtschaftliche Aspekte im
Vordergrund: neben einem Vorgriff auf die Projekte ab 1943 (Sonderstab Kammler:
Rüstung, unter- und oberirdische Anlagen, Sonderbauvorhaben) vor allem die neue
Gefangenenkategorie „Arbeitsjude“ (aus dem Endlösungsprogramm vorläufig ausgenommen),
die Einschränkung sinnloser Schikanen und der Prügelstrafe – alles unter dem Aspekt
„Erhaltung der Arbeitskraft der Häftlinge“ und später sogar eine „Prämienordnung“ für
fleißige Häftlinge (Pohl 15.5.43) Ausdrücklich verweist aber auch Broszat auf den
rücksichtslosen Verschleiß der Häftlinge und die mehr oder weniger vorsätzliche
Vernichtung (zum Beispiel bei der Steinbrucharbeit in Mauthausen/Gusen)
3) Zur Begründung für die Errichtung von Auschwitz: Bei Orth sind die Siedlungspläne
Himmlers der z e n t r a l e Aspekt, drei weitere Interessen spielen eine Rolle:
sicherheitspolitische Interessen der Besatzungsmacht, Arbeitskräfte für Baumaterialien
und schließlich das Buna-Werk der IG-Farben. Orth zitiert ausführlich Höß: Himmler
wollte in Auschwitz d i e landwirtschaftliche Versuchsstation und d i e deutsche
Ostsiedlung. Höß berichtet aber auch, dass für Himmler die Arbeitskräfte für die IGFarben
und geplante Verlegungen von Rüstungszweigen wichtige Aspekte beim KZ Auschwitz
waren (1.3.41 Himmler in Auschwitz). Broszat verweist zwar auch auf die geplante Anlage
landwirtschaftlicher Versuchsstationen und Produktionsstätten der SS in Auschwitz, sieht
aber „bestimmend für den Ausbau von Auschwitz...den Standort der ostoberschlesischen
Industrie“ und das spätere Bestreben, „...möglichst viele Werke nach dem weniger durch
Luftangriffe gefährdeten Osten zu verlegen“.
Im Kapitel „Planmäßige Tötungsaktionen 1941/42“ stellt Karin Orth drei Thesen auf, die
meiner Ansicht nach den Übergang vom Konzentrationslager zum Vernichtungslager deutlich
machen:
1)die neue Form der Gewalt in Form der Ermordung der kranken KZ-Häftlinge und der
„politischen Kommissare“
)die großangelegte Täuschungsprozedur der Häftlinge zusammen mit dem Missbrauch des
bis dahin allgemein gültigen positiven Ärztebildes und
3)die in den verschiedenen Konzentrationslagern – und zuvor schon außerhalb der KZ im
besetzten Osten - entwickelten „individuellen Tötungsverfahren“ als Quasi-Auslöser
sozusagen von unten her – des späteren Massenvernichtungsprogramms.
Auch wenn es schon vor 1941 Tötungsaktionen in einzelnen Konzentrationslagern gegeben
hat und außerhalb der KZ’s schon seit Herbst 1939 das sogenannte „Euthanasie -Programm“
– also die Ermordung der Insassen von Heil- und Pflegeanstalten durchgeführt wurde –
unterscheidet sich die Ermordung der kranken KZ-Häftlinge ab Frühjahr 1941 und die
Ermordung der „politischen Kommissare“ in Konzentrationslagern ab September 1941 – so
die These von Karin Orth – von den bis dahin bekannten Gewaltexzessen. Beide
Mordaktionen wären von der SS-Führung geplant und explizit befohlen worden und
intendierten die Vernichtung großer und auch genau definierter Häftlingsgruppen. Es handle
sich daher um Gewaltformen, die nicht mehr für ein einzelnes KZ, sondern für das gesamte
KZ-System charakteristisch wären.
Dass die Initiative zur Ausweitung der Euthanasie auf das KZ-System von Himmler
ausgegangen sei, vermutet Karin Orth, untermauert dies aber glaubwürdig mit Fakten aus
Himmlers Dienstkalender und Daten aus Frankfurter Gerichtsakten.
Broszat weist darauf hin, dass die Euthanasie-Maßnahmen wegen zahlreicher öffentlicher
Proteste gestoppt werden mussten und bezeichnet die Konzentrationslager als „abgeschirmte
Orte für Gewaltakte volksbiologischer Reinigung, die man der Öffentlichkeit nicht zumuten
konnte“.(ähnlich auch Helmut Krausnick, der ebenso wie Orth den an der „14 f 13“
Ausmusterung beteiligten Arzt Dr. Mennecke zitiert).
Die von Anfang an geplante und von höchster Stelle angeordnete Ermordung der „politischen
Kommissare“ ist klar dokumentiert (Kommissarbefehl, Heydrich, Einsatzbefehl Nr. 8).
Bei Broszat ist zu lesen, dass bei der Ermordung der „politischen Kommissare“ die
Konzentrationslager „von vornherein nur als Erschießungsorte“ dienten (die sowjetischen
Kriegsgefangenen wurden gar nicht als Häftlinge registriert und ihr Tod in den Lagerkarteien
auch nicht verbucht).
Die Pervertierung des bis dahin allgemein gültigen Arztbildes (Ausnahme nur – soweit
bekannt - die Euthanasie-Ärzte) und die im großen Ausmaß aufgezogenen
Täuschungsaktionen der Häftlinge wird von Karin Orth eindrucksvoll herausgearbeitet.
Die mit der „T 4“-Aktion gemachten Erfahrungen zur Täuschung und Beruhigung der
Patienten wurden dann in veränderter Form ja auch bei den Mordaktionen an den
Kriegsgefangenen angewendet und schließlich bis hin zur Bezeichnung der Gaskammern als
Duschen durchgezogen.
Bis zur „T 4“-Aktion hatten KZ-Insassen den Tod zwar mit Folter oder Erschießen auf der
Flucht in Zusammenhang gebracht, nicht aber mit einem systematischen, von Ärzten
initiierten Mordprogramm, so Karin Orth. Ihre Erklärung, dass die Häftlinge im
Anfangsstadium der Aktion versuchten, eine Krankheit zu simulieren, um von den Ärzten
„ausgewählt zu werden“ und so vermeintlich dem KZ zu entgehen, ist überzeugend. Ebenso
das Umschlagen in Angst - als offenbar wurde, dass die selektierten Häftlinge ermordet
worden waren – einem „Invalidentransport“ zugeteilt zu werden. Zur Pervertierung des
Arztbegriffes die Schilderung von Höß, dass bis Mitte 1944 nur er und „die Ärzte“ den
Vernichtungsbefehl kannten, laut RFSS „die Kranken, besonders [aber] die Kinder unauffällig
zu beseitigen“. (Hier nennt Höß ausdrücklich die lieben und besonders zutraulichen
Zigeunerkinder!)
Was die Täuschung betrifft, hebt Orth besonders die frappierende Ähnlichkeit zwischen der
„Aktion 14 f 13“ und der „ärztlichen Inszenierung“ der Genickschuss-Anlage in
Sachsenhausen für die russischen Kriegsgefangenen (der SS-Blockführer als Arzt verkleidet)
hervor. Dass viele „arglos in den Tod“ gingen, ist in ähnlicher Form bei Höß’ Schilderung der
in die Gaskammern gehenden Juden zu lesen. Krausnick schreibt, die „Täuschung der Opfer,
die Tarnung in Gestalt kompletter Bahnhofseinrichtungen, fingierter Waschräume u.a.m.“
hätte in Treblinka „zwecks reibungsloser Durchführung der Mordaktion ... ein Höchstmaß
erreicht“ (S651)
Zur dritten These: die 1941/42 von der SS unternommenen unterschiedlichen
Mordprogramme scheint eine Klammer zu bilden zwischen den Funktionalisten und den
Intentionalisten:
Krausnick ist der Ansicht, dass „die Endlösung im Sinne der biologischen Vernichtung der
Juden bereits im Frühjahr 1941 für Hitler beschlossene Sache war“. Er zitiert dazu seine
Besprechungen mit dem südafrikanischen Minister Priow (24.11.38) und dem CSRAußenminister
Chvalkovsky (21.1.39) sowie seine Reichstagsrede am 30. Jänner 1939 und die im Brief von
Göring an Heydrich vom 31.7.41 verwendete Formulierung „ angestrebte Endlösung der
Judenfrage“.
Karin Orth zeigt mit ihrer ausführlichen Schilderung der SS-Versuche, auf unterschiedliche
Art möglichst viele Menschen zu ermorden (Kohlenmonoxyd, Genickschussapparat,
Massenerschießung, Eiswasser, Giftinjektionen und schließlich Zyklon B), dass zwar die
große Mordstrategie von oben her gewünscht und beabsichtigt war, es aber von der aktiven
Mitarbeit und der „Intention“ der nachgeordneten SS-Stellen abhing, wie der Massenmord
schließlich bewerkstelligt werden konnte. Orth zitiert Christian Streit, wonach Höß und
Fritzsch mit ihren Zyklon-B-Experimenten – in einem quasi systemkonformen Zufall – das
technische Mittel zum Massenmord mit minimalem Arbeitsaufwand gefunden hätten. Der
Beginn der Zyklon-B-Morde war daher noch nicht die Durchführung des Endlösungsbefehls,
sondern das Ergebnis einer eigenverantwortlich initiierten Tötungsaktion der Lager-SS, so
Orth. Aber es war offenbar das eigentliche Vehikel zur Durchführung der sogenannten
Endlösung.
Im Kapitel „Zwangsarbeit und Völkermord innerhalb des KZ-Systems“ bezeichnet Karin Orth
das Jahr 1942 als „Wendepunkt“ in der Entwicklung des KZ -Systems: einerseits wurde von
Himmler versucht, die Konzentrationslager in ein Arbeitskräftereservoir für die
Rüstungswirtschaft umzuwandeln, andererseits wurden Auschwitz-Birkenau und
Majdanek zu Vernichtungslagern.
Die Kernthese von Orth in diesem Kapitel: die Gleichzeitigkeit von Zwangsarbeit und
Völkermord bedeutete keinen Widerspruch, weil unterschiedliche Verfolgtengruppen
betroffen waren: die nichtjüdischen Häftlinge von Zwangsarbeit, die jüdischen von
(industriell geplanter und durchgeführter) Vernichtung.
Dem Thema „Zwangsarbeit“ ist in diesem Kapitel der weitaus größere Teil gewidmet. Orth
folgt großteils Broszat, was die politischen Intentionen Himmlers und die organisatorischen
Maßnahmen der SS betrifft, geht in einigen Bereichen aber über Broszat hinaus: die
SS-internen Probleme Pohls mit den Kommandanten, die unwillig/unfähig waren, den
Wandel zum Arbeitseinsatz mitzutragen, die detaillierte Schilderung der ersten Projekte
(Arbeitsdorf, Heinkel-Werk), den Beginn der Außenlager.
Der Hinweis von Broszat, dass amerikanische Militärrichter 1947/48 in der Frage der
schuldhaften Beteiligung bedeutender Industriekonzerne an der Versklavung und Ausnutzung
der KZ-Häftlinge dann schuldhaftes Verhalten als gegeben ansahen, wenn Direktoren oder
Vorstandsmitglieder v o n s i c h a u s mit der SS Fühlung nahmen, um Häftlinge als
Arbeitskräfte überstellt zu bekommen, wäre angesichts der Hinweise auf Volkswagen,
Heinkel, IG-Farben etc. wohl eine Fußnote wert gewesen.
Die von Orth gestellte (meiner Ansicht nach wesentliche) Frage, wie sich die
Grundsatzentscheidung zum Arbeitseinsatz vom Herbst 1942 und das später entwickelte
„Prämiensystem“ auf die Überlebenschancen und die Haftbedingungen der KZ-Häftlinge
auswirkten, wird von Broszat nicht gestellt. Die von Orth aufgestellt These (nur eine kleine
Gruppe von Privilegierten stand einer großen Masse von Häftlingen gegenüber, die rigider
Zwangsarbeit, Seuchen und Hunger ausgesetzt waren), scheint überzeugend, ebenso ihre
vier Begründungen dafür, dass zwar die Sterblichkeitsrate insgesamt sank, von einer
generellen Verbesserung der Haftbedingungen aber nicht gesprochen werden
konnte (relative Todesrate angesichts steigender Häftlingszahlen, teilweise Fälschungen,
Abschiebung „arbeitsunfähiger“ KZ-Insassen in Vernichtungslager und unterschiedliche
Betroffenheit nationaler und sozialer Häftlingsgruppen, die zur „tödlichen Diskrepanz
zwischen arbeitsfähigen KZ-Häftlingen und sogenannten unnützen Fressern führte“..)
Im Kapitel über die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Majdanek geht Orth meiner
Ansicht nach zu wenig auf das „Warum“ ein. In diesem Zusammenhang – wie übrigens auch
im Kapitel über die letzten Kriegsmonate – kommt mir ein Mann zu wenig „deutlich“ vor:
ein Großteil der Aktionen wird immer nur mit Himmler verbunden (wenn auch oft als
„williger Vollstrecker seines Herrn“) , dass Hitler aber die eigentlich treibende Kraft am
Massenmord und an der Vernichtung der Juden war, kommt zu kurz.
In diesem Zusammenhang ein Zitat aus Christopher Brownings neuen Buch („Die Entfesselung der
Endlösung“), das für die Hitler -Himmler-Beziehung exemplarisch scheint: „Wer erfahren
will, was Hitler dachte, muss sich ansehen, was Himmler tat“ (S. 606)
In ihrem Nachwort verdeutlicht Karin Orth zwar diesen Satz, wenn sie Himmler – wenn auch
meist erfolglos – immer in jenen Bereichen tätig werden lässt, die für Hitler gerade Priorität
hatten, aber auch hier wieder meiner Ansicht nach zu sehr bezogen auf die machtpolitischen
Interessen Himmlers und zu wenig auf den „Haupttäter“ Hitler.
In diesem Zusammenhang bleibt für mich in der umfassenden und wirklich beeindruckenden
Arbeit von Karin Orth über die letzten Kriegsmonate eine wesentliche Frage offen: warum
wurden trotz eines auch für die NS-Spitze offensichtlich verlorenen Krieges in den letzten
Monaten nochmals etwa 250.000 Menschen auf den „Todesmärschen“ ermordet?
Immerhin hatte ja Himmler, wie Orth schreibt, seine „ideologisch fixierten Vorstellungen
vollständig hinter pragmatischen Überlegungen“ zurückgestellt, als er mit Graf Bernadotte
wegen eines Separatfriedens verhandelte. Hat er – nach dem Scheitern – dennoch damit
gerechnet, mit den auf den Todesmärschen „herumirrenden“ Geiseln noch ein
„Gegengeschäft“ zu machen, oder ist er zu den ideologischen Wurzeln zurückgekehrt?
Und damit zu seinem „Herrn“ Hitler, der ja noch in seinem „politischen Testament“ am 29.
April 1945 die Vernichtung der Juden „als den größten Dienst hinstellte, den der
Nationalsozialismus der Menschheit erwiesen habe“ (Zitat bei Saul Friedländer, „Vom
Antisemitismus zur Judenvernichtung“ S 37) In Anlehnung an Ian Kershaw (Führer und
Hitlerkult, S. 33) also eine Verbindung von „beispielloser Zerstörung anderer und
immanenter Tendenz zur Selbstzerstörung“.
NS.: Zwei kurze – kritische – Anmerkungen noch zum Buch von Karin Orth: das Buch
hätte zumindest zwei Landkarten „vertragen“ – eine mit der Lage der
Konzentrations(haupt)lager, ihrem Gründungs- und Räumungs-(bzw. Befreiungs-)Datum
und eine zweite zur Erläuterung des wichtigen Kapitels der „Todesmärsche“.
Und im Kapitel „Buchenwald“ (S 225) wird der Monatsumsatz der „Wilhelm -Gustloff“-
Werke 1942 mit drei Mill. RM und im Juli 1944 mit 10 Mill. RM angegeben und damit die
Umsatzsteigerung dokumentiert. Abgesehen davon, dass Monatsumsätze nicht unbedingt
aussagekräftig sind (und ein multiplizieren mal 12 keineswegs den relevanten Jahresumsatz
ergeben muss), finden sich in einer im Museum Leuchtenberg von Peter Haufschild
zusammengestellten Auflistung für 1942 eine Jahresumsatzzahl von 122,23 Mill. RM und für
1944 von 270,57 Mill. RM also wesentlich höhere Zahlen. Haufschild bezieht sich dabei auf
das („DDR -Standard“)-Werk „Reimagh – Unternehmen des Todes“ von Horst Lange, Jena 1984
(eine Klärung dieser Differenz wäre wohl vorzunehmen).
Literatur:
Johannes Tuchel: Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion
der Konzentrationslager“ 1934- 1938 (Schriften des Bundesarchivs, 39) Boppard 1991
Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz – Autobiographische Aufzeichnungen, Hg. von
Martin Broszat, dtv München, 16. Auflg. 1998
Helmut Krausnick: Judenverfolgung, in Anatomie des SS-Staates, von Hans Buchheim,
Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen und Helmut Krausnick, dtv München, 7. Auflage 1999
Christopher Browning: Die Entfesselung der „Endlösung“, Nationalsozialistische Judenpolitik
1939-1942, Propyläen München 2003
Saul Friedländer: Vom Antisemitismus zur Judenvernichtung, in: Eberhard Jäckel, Jürgen
Rohwer (Hg.): Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/M. 1987
Ian Kershaw: Führer und Hitlerkult, in W. Benz und H. Grasl, Hg.: Enzyklopädie des
Nationalsozialismus, München 1997
Peter Haufschild, Dokumentation Museum Leuchtenberg, Kahla, Thüringen, Internet
www.museum-leuchtenberg.de
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